Open Gender Journal (2020) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Betina Aumair
Rezensionen zu Heike Dierckx, Dominik Wagner, Silke Jakob (Hg.):
Intersektionalität und Biografie.
Interdisziplinäre Zugänge zu Theorie, Methode und Forschung.
Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2018.
177 Seiten, ISBN 978-3-8474-0516-0, € 26,00
Vorliegender Sammelband, der Ergebnis einer Konferenz des Gießener Graduiertenzentrums aus dem Jahr 2015 ist, beinhaltet acht Beiträge, in denen es um die Verschränkung von intersektionalitätstheoretischen Ansätzen und Ansätzen der Biografieforschung geht. Als übergreifendes Anliegen nennen die Autor_innen eine grundlegende Erkundung der Möglichkeiten des Zusammenwirkens von Intersektionalität und Biografieforschung. Der Fokus liegt dabei stets auf der Erforschung unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen über den Lebensverlauf hinweg. Dabei werden potentielle Berührungspunkte bzw. Schnittstellen anhand unterschiedlicher intersektionaler Kategorien, wie zum Beispiel Behinderung, Trans*-Identität, Klasse, Herkunft oder Alter, erarbeitet.
Schlagworte: Biografieforschung, Diversität, Differenz, Intersektionalität, Soziale Ungleichheit
Zitationsvorschlag: Aumair, Bettina (2020): Auf den Spuren sozialer Ungleichheit in Lebensverläufen. Rezension zu: Heike Dierckx, Dominik Wagner, Silke Jakob (Hg.) (2018): Intersektionalität und Biographie. In: Open Gender Journal (2020). doi: 10.17169/ogj.2020.148
Copyright: Betina Aumair. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2020.148
Veröffentlicht am: 08.10.2020
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Vor 30 Jahren prägte Kimberlé Crenshaw (1989) den Begriff der Intersektionalität, um damit das Zusammenwirken verschiedener Formen und Dimensionen von Ungleichheit zu beschreiben und Lebenswirklichkeiten in ihrer Vielfalt sichtbar zu machen. Im deutschsprachigen Raum wird die intersektionale Perspektive vor allem in den Gender Studies angewendet. In Anlehnung an das travelling concept der Kulturanalytikerin Mieke Bal (2002) kann bei der Intersektionalität von einem reisenden Begriff oder Konzept gesprochen werden, der nicht nur in verschiedenen Ländern unterschiedliche Ausprägungen erfährt, sondern zunehmend auch in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zur Anwendung kommt. Die Verbindung zur Biografieforschung ist dabei nur selten gelegt worden; neben einzelnen Aufsätzen zu Identität, Narration und Erzählforschung, die Anknüpfungspunkte zu ihr darstellen, findet sich wenig Literatur, in der sich dezidiert mit Biografieforschung und Intersektionalität auseinandergesetzt wird. Daher stellt dieser Sammelband ein wichtiges Novum dar. Die Zielsetzung der Herausgeber_innen ist es, einem Desiderat der Biografieforschung nachzugehen, nämlich der Frage, auf welche Art und Weise sich verschiedene Dimensionen der Benachteiligung im Leben eines Menschen miteinander verweben.
Der Sammelband hat meines Erachtens drei Stärken: Erstens legen die Beiträge die intrinsische Vielfältigkeit des Intersektionalitätskonzeptes und der Biografieforschung dar, zweitens zeigt sich, wie sich die beiden Konzepte gegenseitig stärken und ergänzen können, und drittens wird anhand der thematischen Beispiele, auf die sich die Beiträge beziehen, das breite Spektrum der praktischen Anwendbarkeit beider Modelle deutlich. Insgesamt ist es den Autor_innen dieses Sammelbands gelungen, die Intersektionalitätstheorie für die Biografieforschung fruchtbar zu machen. Es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt, und es wird anschaulich entwickelt, welche gewinnbringenden Verbindungen zwischen Biografieforschung und Intersektionalität in unterschiedlichen Forschungsbereichen eingegangen werden können.
Theoretisch orientieren sich die Autor_innen vor allem an den Intersektionalitätsbegriffen von Crenshaw (1989), McCall (2005) und Walgenbach (2007), und in Bezug auf die Biografieforschung werden vor allem die Ansätze von Rosenthal (u. a. 1995, 2015) herangezogen.
In einem Großteil der Beiträge geht es um die Darstellung der theoretischen und methodischen Zugänge. So auch im Text von Heike Dierckx, der den Anfang im Sammelband macht. Die Autorin stellt einerseits einen einführenden und ausgiebigen Überblick zu beiden Schwerpunkten des Sammelbandes bereit, wendet sich aber andererseits auch der konkreten Frage zu, mit welchen methodischen und methodologischen Zugängen sich soziale Ungleichheiten in narrativen Interviews ermitteln lassen. Um diese Frage zu beantworten, stützt sie sich auf die Definition von Intersektionalität nach Walgenbach, die es als wesentlich erachtet, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Subjektivierungsprozesse und soziale Ungleichheiten nicht getrennt voneinander, sondern in ihrer Verwobenheit analysiert werden (vgl. S. 23). Darin sieht Dierckx auch die Brücke zur rekonstruktiven Biografieforschung, für die Biografien ebenso nur unter der Berücksichtigung der historisch-politischen Verhältnisse deutbar sind. Die rekonstruktive Biografieforschung ermöglicht es, lebensgeschichtliche Ereignisse daraufhin zu untersuchen, welche intersektionalen Kategorisierungen in welcher Form darin Einfluss nehmen. Mit Rekonstruktion ist dabei das Bestreben gemeint, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie biografische Erzählungen konstruiert werden, um in weiterer Folge nachzuzeichnen, welche Bedeutung gesellschaftliche Strukturen in der Herstellung von intersektionaler Diskriminierung haben (vgl. S. 31). Weitere Stärken in der rekonstruktiven Biografieforschung mit intersektionaler Ausrichtung sieht die Autorin darin, dass die Mikro-, die Meso- und die Makroebene berücksichtigt werden können, da in biografischen Erzählungen eigentlich immer auf alle drei Ebenen Bezug genommen wird. (S. 33) Des Weiteren erlaubt sie, anhand subjektiver Deutungen der Erzählenden Zusätzliches über den individuellen Umgang mit intersektionaler Diskriminierung zu erfahren und mehr über die Bedeutung und subjektive Gewichtung einzelner Kategorien in Lebensverläufen herauszufinden. Mit ihrem Beitrag ermöglicht Diercks einen für den Sammelband wichtigen Überblick über die Thematik.
Auch Fiona Kalkstein stellt den theoretischen und methodischen Zugang in den Mittelpunkt, wodurch ihr Beitrag noch einmal eine Vertiefung bzw. Erweiterung grundlegender Zugänge zum Gegenstand des Sammelbandes leistet. Sie analysiert die Handlungsfähigkeit von Frauen im Kontext von Klasse und Geschlecht. Anhand qualitativer Interviews untersucht sie biografische Verläufe von Frauen aus dem Arbeiter_innenmilieu, konzentriert sich jedoch in ihrem Artikel auf das methodische Vorgehen und den analytischen Rahmen der Untersuchung. Wie Handlungsfähigkeit aus einer intersektionalen Perspektive hergestellt, aufrechterhalten und erweitert wird, ist die zentrale Frage, der Kalkstein nachgeht. Methodisch orientiert sie sich am Forschungsstil der grounded theory. Als analytisches Rahmenkonzept zieht die Autorin die kritische Psychologie heran, die für eine macht- und herrschaftskritische Handlungstheorie eintritt (vgl. S. 144). Dies ermöglicht es ihr, biografische Erzählungen gesellschaftstheoretisch einzubetten und Handlungsfähigkeit macht- und herrschaftskritisch zu analysieren.
Während eine biografische Perspektive das Prozesshafte einer Lebensgeschichte in den Fokus stellt, konzentriert sich der intersektionale Ansatz auf die Wechselwirkungen sozialer Differenzkategorien. Die konkrete Wirksamkeit der Verschränkung beider Betrachtungsweisen im Zusammenhang mit dem Umgang mit Armut analysiert Dominik Wagner in seinem Beitrag. Im Fokus der Interviews, die mittels des Verfahrens der theorieorientierten Fallrekonstruktion ausgewertet wurden, steht dabei die Frage nach Hinweisen auf die Ursachen und Hintergründe der sozialen Reproduktion von Armut in den Biografien der Befragten. Wagner identifiziert fünf „Strukturaspekte des Lebens in Armut“ (S. 112), die in unterschiedlicher Häufung und Gewichtung den Umgang der Befragten mit Armut bedingen. Für die Intersektionalitätstheorie, so der Autor, ermöglicht die Biografieforschung eine lebensweltliche Kontextualisierung ihrer theoretischen Zugänge. Sein Beitrag stellt einen anschaulichen Vergleich von biografischen und intersektionalen Zugängen bereit und trägt so wesentlich zur Veranschaulichung des Themenschwerpunktes bei.
Eveline Amman Dula gelingt es in ihrem Artikel darzulegen, wie in der Biografieforschung das Konzept sozialer Grenzziehungsprozesse für eine intersektionale Analyse sozialer Ungleichheiten angewendet werden kann. Das analytische Modell der sozialen Grenzziehungsprozesse fokussiert genauso wie das Konzept der Intersektionalität nicht auf einzelne Kategorien, sondern stellt die Prozesse, denen Kategorisierungen unterliegen und durch die soziale Ungleichheiten hergestellt oder verändert werden, in den Mittelpunkt. Grenzen können dabei symbolischer oder sozialer Natur sein und stehen in einer sich gegenseitig stärkenden oder abschwächenden Wechselwirkung (vgl. S. 124 f.). In Kombination mit der Biografieanalyse können dadurch, so die Autorin, ergänzend zur Analyse gesellschaftlicher Strukturen auf einer individuellen Ebene Handlungsstrategien der Akteur_innen im Umgang mit sozialen Ungleichheiten aufgezeigt werden. Praktisch verdeutlicht sie dies am Thema des transnationalen Aufstiegs von Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien.
Obwohl die theoretischen und methodischen Zugänge in allen Beiträgen erläutert werden, sind doch manche stärker auf die praktische Anwendung fokussiert und enthalten auch Ergebnisse aus Interviews und Studien. Im Text von Christine Demmer steht das Tätigkeitsfeld der Erziehungswissenschaft besonders im Blickpunkt. Für die pädagogische Praxis birgt die Arbeit mit biografischen Erzählungen die Chance, durch die Kontrastierung mit eigenen Vorstellungen alternative Sichtweisen kennenzulernen, und unterstützt so dabei, Selbstverständlichkeiten und Normalitätsvorstellungen zu hinterfragen. In ihrer Untersuchung des Verhältnisses von Biografieforschung und Intersektionalität aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive betrachtet die Autorin vor allem die beiden intersektionalen Kategorien Geschlecht und Behinderung. Ergänzt wird ihre Analyse durch den reflexiv-hermeneutischen Ansatz von Theodor Schulz, in dem vor allem auf Einzelfälle fokussiert wird und der somit als Gegengewicht zu einer kategorialen und damit oft auch verallgemeinernden Sicht fungieren kann (vgl. S. 56). Anhand von Passagen aus zwei lebensgeschichtlichen Erzählungen untersucht Demmer die interaktionellen und kontextuellen Zusammenhänge, in denen Geschlecht und Behinderung von den Interviewten eingesetzt wird. Dabei wird ersichtlich, dass lebensgeschichtliche Deutungen trotz äußerer Gemeinsamkeiten different ausfallen können.
Der Beitrag von Monika Götsch ist vor allem auch im Kontext einer zunehmenden Beachtung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten in der Arbeitswelt von besonderem Interesse. Sie konstatiert zu Beginn ihres Textes, in dem sie sich mit Erwerbsbiografien von Trans*personen auseinandersetzt, dass mit zunehmender Neoliberalisierung des Sozialstaates sich auch Erwerbsarbeits- und Geschlechterverhältnisse wandeln. Einerseits, so stellt die Autorin fest, werde die Gesellschaft pluralisiert, andererseits Heteronormativität normalisiert. Des Weiteren sei der Erwerbsarbeitsmarkt nach wie vor zweigeschlechtlich segregiert, was für Trans*personen sowohl Chancen als auch Risiken der Er- und Verkennung berge (vgl. S. 65 f.). Götsch fokussiert in ihrer Analyse auf biografische Meilensteine in Erzählungen über das Outing am Arbeitsplatz. Anhand von Interviewpassagen wendet sie sich dabei den Differenzkategorien Class, Gender, Body und Race in ihrer Verschränkung zu und analysiert die Wirkmächtigkeit dieser Kategorien in den jeweiligen Erzählungen.
Der Frage, wie sich die soziale Zuweisung von strukturell abgewerteten Positionen auf die konkrete Lebensgestaltung der Interviewten auswirkt, widmet sich Anna Sarah Richter. Dabei lenkt sie ihren Blick auf die Differenzkategorien Alter, Geschlecht und ostdeutsche Herkunft und analysiert diese in ihrer Interdependenz. Zum einen interessieren sie die Selbstpositionierungen der Befragten im Verhältnis zu anderen Personen bzw. auch zu institutionellen Strukturen oder symbolischen Ordnungen, zum anderen geht es ihr um das Verhältnis von Abwertung und Anerkennung. Für die Analyse stützt sie sich auf die subjekttheoretischen Annahmen Judith Butlers und die anerkennungstheoretischen Vorstellungen Axel Honneths. In ihrem Beitrag schafft es die Autorin zu verdeutlichen, dass strukturelle Platzierungen und subjektive Aneignungen in einem wechselseitigen Zusammenhang stehen. Gleichzeitig wird sichtbar, dass Menschen den abgewerteten strukturellen Positionierungen nicht machtlos gegenüberstehen, sondern dass sie über Selbstaufwertungen (und oft eine damit einhergehende Fremdabwertung des anderen) die Deutungsmacht auch wieder an sich nehmen (vgl. S. 90).
Der letzte Beitrag im Sammelband hat Alter(n)sbilder in literarischen Erinnerungswerken in der zeitgenössischen Literatur Spaniens zum Inhalt. Amanda Hinteregger untersucht die narrativen Beschreibungen des weiblichen Alterns und kombiniert dabei die Intersektionalitätstheorie mit einer literaturwissenschaftlichen Perspektive. Von Interesse ist für sie vor allem der Standpunkt, von dem aus sich die Frauen erinnern, sowie die eingesetzten sprachlichen Mittel in den Erzählungen, aber auch die Frage, welche Konzeptionen von ‚alter Frau‘ konstruiert werden. Ein zentrales Ergebnis ist zum Beispiel, dass das ‚weibliche Alter‘ eine erzähltechnische Funktion erfüllt, um das literarische Erzählen von Erinnerungen zu autorisieren, was das Potential beinhaltet, eine Weiterführung historischer Machtstrukturen zu unterbrechen (vgl. S. 171).
Den Autor_innen dieses Sammelbandes ist es gelungen, einerseits eine übersichtliche Einführung in das Zusammenspiel von Intersektionalität und Biografieforschung zu liefern und andererseits diese theoretischen Darlegungen mit praktischen Anwendungsbereichen anschaulich darzustellen. Wie vielfältig sowohl die Intersektionalität als auch die Biografieforschung in ihrer wissenschaftlichen Anwendung ist, wird dabei evident und hat so das Potential, zum Weiterdenken bzw. zum Transfer in andere Bereiche anzuregen. Der Band ist als facettenreiche Auseinandersetzung mit dem Schwerpunkt Intersektionalität und Biografieforschung zu sehen. Vor allem für wissenschaftliche Arbeitende, die sich mit Fragen des intersektionellen und biografieorientierten Zugangs zu typischen Themenfeldern der Intersektionalität beschäftigen wollen, bietet der interdisziplinär angelegte Sammelband eine große Palette an von Beiträgen mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Bal, Mieke (2002): Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press.
Crenshaw, Kimberle (1989): Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. In: The University of Chicago Legal Forum (1), 139–167.
McCall, Leslie. (2005). The Complexity of Intersectionality. In: Signs. Journal of Women in Culture and Society 30(3), 1771–1800. doi: 10.1086/426800.
Rosenthal, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main/New York: Campus.
Rosenthal, Gabriele (2015): Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. 5. Aufl. Weinheim/Basel: Beltz, Juventa.
Walgenbach, Katharina (2007): Gender als interdependente Kategorie. In Walgenbach, Katharina/Dietze; Gabriele/Hornscheidt, Lann/Palm, Kerstin (Hg.). Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität.Opladen, Toronto: Barbara Budrich, 23–65. doi: 10.2307/j.ctvddzkrr.4.