Open Gender Journal (2021) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Afro-deutsche Frauen in Bewegung: Von May Ayim bis Black Lives Matter

Rezension von Sandra Folie


Rezensionen zu Tiffany N. Florvil (2020):
Mobilizing Black Germany.
Afro-German Women and the Making of a Transnational Movement.
Wiesbaden: Springer VS 2019.
Urbana, Chicago, Springfield: University of Illinois Press.
296 Seiten, ISBN: 978-0-2520-8541-3, € 25,49


Abstract

Unter Einbeziehung zahlreicher unterschiedlicher und teils unveröffentlichter Quellen aus Privatarchiven rekonstruiert Tiffany N. Florvil die Geschichte der modernen Schwarzen deutschen Bewegung. In sechs ansatzweise chronologisch aufgebauten Kapiteln arbeitet Florvil sich von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart vor bzw. von Audre Lordes Berliner Jahren und May Ayims literarischem Aktivismus über die Entstehung zentraler Schwarzer deutscher Organisationen wie der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Afrodeutsche Frauen/Schwarze Frauen in Deutschland e.V. (ADEFRA) bis hin zu Black Lives Matter. Besonders viel Raum wird Schwarzen deutschen „Aktivistinnen-Intellektuellen“ (activist-intellectuals) bzw. „Alltagsintellektuellen“ (quotidian intellectuals) und ihrem intersektionalen wie transnationalen Feminismus eingeräumt.

Schlagworte:Aktivismus, Feminismus, Intersektionalität, Rassismus, Schwarze Deutsche

Zitationsvorschlag: Folie, Sandra (2021): Afro-deutsche Frauen in Bewegung: Von May Ayim bis Black Lives Matter. Rezension zu Tiffany N. Florvil (2020): Mobilizing Black Germany. In: Open Gender Journal (2021). doi: 10.17169/ogj.2021.184.

Copyright: Sandra Folie. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2021.184

Veröffentlicht am: 23.08.2021

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Tiffany N. Florvil setzt sich in „Mobilizing Black Germany“ das Ziel, die Geschichte der Schwarzen deutschen Bewegung von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart aufzuarbeiten. Wie der Untertitel verrät, legt sie dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die transnationale Vernetzung der Bewegung und ihre afro-deutschen Akteurinnen. Der Untersuchungszeitraum beginnt in etwa dort, wo das Gründungsdokument der afro-deutschen Bewegung „Farbe bekennen“ (Oguntoye/Opitz/Schultz 1986; engl. „Showing Our Colors“, 1992) aufhörte: Mitte der 1980er Jahre. Florvils umfassende Aufarbeitung der Anfänge und Entwicklungslinien der Schwarzen deutschen Bewegung anhand von teils unveröffentlichten Materialien gliedert sich in das auf beiden Seiten des Atlantiks florierende Forschungsfeld der Black German Studies ein. Ihre Monografie bietet eine historiographische Ergänzung zu Sammelbänden wie „Remapping Black Germany“ (Lennox 2016) und „Rethinking Black German Studies“ (Florvil/Plumly 2018), die mehr auf interdisziplinäre Breite als auf innerdisziplinäre Tiefe setzten.

Deutschsein – Schwarzsein – Frausein: Ein Paradox für die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft

Die Verbindung von Intellektualität, Aktivismus und Alltagspraktiken in den von Florvil gewählten Bezeichnungen für wichtige Akteurinnen der Schwarzen deutschen Bewegung – „activist-intellectuals“ (S. 1-3, 5, 9, 11f.) bzw. ihre eigene Begriffsprägung „quotidian intellectuals“ (eingeführt auf S. 6) – zeigt schon an, dass diese immer noch oft getrennt betrachteten Bereiche als ineinandergreifend und sich wechselseitig beeinflussend begriffen werden. Das spiegelt sich auch in der Vielzahl von publizierten und unpublizierten, akademischen und aktivistischen oder auch alltäglichen und privaten Materialien wie Briefen, autobiografischen Schriften, Interviews, Gedichten, Zeitungen, Protokollen und Broschüren von Organisationen, Veranstaltungsprogrammen usw. wider, die Florvil zum Teil in Archiven und privaten Sammlungen Schwarzer deutscher Aktivistinnen ausgemacht hat. Für den Umgang mit den unterschiedlichen Arten von Quellen wählt Florvil jedoch keinen Methodenpluralismus und auch kein inter- oder transdisziplinäres Vorgehen; sie werden vielmehr herangezogen, um die zwar unterschiedlichen, aber eng verschränkten Seiten einer Bewegung – die institutionellen und bürokratischen, aber auch die persönlichen und kreativen – aufzuzeigen. Wenn also Gedichte und Briefe besprochen werden, geschieht dies nicht aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive, sondern mit Bezug auf die Biografien der Autorinnen und den historischen und sozialgeschichtlichen Kontext, d.h. es interessiert vor allem die Aussagekraft der Dokumente über konkrete zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch über die Situation Schwarzer Menschen in Deutschland zu einer bestimmten Zeit, die Aktivitäten und Pläne der Schwarzen deutschen Bewegung und die transnationalen Kontakte und Verbindungen „Afro-Deutscher“ bzw. „Schwarzer Deutscher“. Obgleich Florvil diese beiden Bezeichnungen synonym und austauschbar verwendet, betont sie, dass die Community, sie selbst eingeschlossen, „Schwarze Deutsche“ bevorzuge, weil der Begriff inklusiver sei und weniger explizit auf den Kolonialismus rekurriere (vgl. S. 4). Schwarze Deutsche sind je nach Kontext bzw. „spacetime“ (Wright 2015, 3-5) nicht unbedingt nur Menschen mit Vorfahren aus Afrika, der Karibik, Europa, Lateinamerika oder den Vereinigten Staaten, sondern können auch People of Color mit z.B. südasiatischen, türkischen oder arabischen Wurzeln oder Verbindungen sein, die Schwarz als politische Identitätszuschreibung verwenden.

Wie viele Schwarze Menschen tatsächlich in Deutschland leben – Schätzungen gehen von 500.000 bis 800.000 aus (vgl. S. 4) –, sei schwer zu eruieren, da Deutschland aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit keine ethnischen Kategorien im Zensus verwende; eine Feststellung, die bereits auf ein zentrales Problem in Deutschland (und Europa) aufmerksam macht: Das Verschweigen oder Nichtsehen (wollen) von race und von Rassismen. Die deutsche ‚racial amnesia‘ und vermeintliche ‚Farbenblindheit‘ verhindern jedoch weder rassistische Sprache und Verhaltensweisen noch rassistisch motivierte Einwanderungsbeschränkungen, die durch das verzerrte Selbstbild von Deutschland als einem „Nicht-Einwanderungsland“ (S. 20) gerechtfertigt werden. „Thus, Black Germans embodied a paradox for their white compatriots, who believed that one could not be both Black and German.“ (S. 5)

Weil Geschichtsschreibung und Theoriebildung den bedeutenden Beitrag von Frauen zu einem Schwarzen Internationalismus und zu den Schwarzen Freiheitskämpfen in Deutschland oft ignoriert oder hintangestellt haben, konzentriert sich Florvil in ihrer Untersuchung auf die diasporische Bewegung afro-deutscher Frauen. Die Akteurinnen, die sie zu Wort kommen lässt, haben sich dafür engagiert, Schwarzes Deutschsein und Frausein in der weißen Mehrheitsgesellschaft sichtbar zu machen und sich gegen Rassismen in einer Gesellschaft aufgelehnt, „that verbally, physically, and discursively marked them as both foreign-born and invisible as German citizens.“ (S. 21)

Audre Lorde, May Ayim und Berlin: Protagonistinnen einer transnationalen Bewegung

Audre Lorde (1934–1992) stellte sich bei Lesungen oft als „black, lesbian, feminist, warrior, poet, mother, and African Caribbean American woman“ (S. 38) vor, um darauf hinzuweisen, wie eng verwoben ihre Identitäten, ihr Schreiben und ihr Aktivismus waren. Ihre wichtige Rolle in der Entstehung der Schwarzen deutschen Bewegung beleuchtet Florvil im ersten Kapitel, das bereits vor Lordes Berliner Jahren (beginnend mit ihrer Gastprofessur am John F. Kennedy Institut der Freien Universität Berlin 1984) einsetzt und einen guten Einblick in ihr Leben und Schaffen gibt. Florvil legt dar, dass nicht alle Schwarzen deutschen Frauen, die mit Lorde in Berührung kamen, ihre Bedeutung gleich hoch einschätzten, sie aber jedenfalls als wichtige Vermittlungsperson eines angewandten intersektionalen und transnationalen Feminismus zu betrachten sei. Sich als Teil einer Diaspora zu begreifen, war gerade für Schwarze Deutsche zentral, deren „direct and indirect routes as a consequence of colonialism“ (S. 36) – anders als bei vielen Afro-Amerikaner*innen – auf keine unmittelbare gemeinsame Herkunftsgeschichte und Gemeinschaft schließen ließen.

Lorde mag eine wichtige Unterstützerin und Verbündete gewesen sein, als Gesicht und Stimme der Schwarzen deutschen Bewegung, so erläutert Florvil in Kapitel vier, ging jedoch die afro-deutsche Aktivistin und Dichterin May Ayim (1960-1996) in die Geschichte ein. Sie war eine der wenigen Schwarzen deutschen Aktivistinnen, die mit ihrer Literatur (neben „Farbe bekennen“ [noch als May Opitz] 1986, u.a. „blues in schwarz weiss“ 1995 und „nacht gesang“ 1997) auch internationale Berühmtheit erreichte. Ayim wurde posthum mit der Umbenennung einer nach einem Kolonialoffizier benannten Straße in May-Ayim-Ufer gewürdigt, bei der es sich um die erste Straße in Deutschland handelte, die nach einer Schwarzen deutschen Frau benannt wurde.

Eine weitere wichtige Protagonistin in der Geschichte der Schwarzen deutschen Bewegung, die sich durch alle Kapitel in Florvils Buch zieht, ist eine Stadt: Berlin – zum einen Gastgeberstadt jener Konferenz, die 1884/85 den kolonialen ‚Wettlauf um Afrika‘ konsolidierte, zum anderen eine internationale Großstadt mit einer langen Geschichte des Schwarzen Aktivismus und damit ein idealer Ort für grenzüberschreitende Netzwerke. Es war in Berlin, wo bereits vor Mauerfall west- und ostdeutsche Afro-Deutsche zusammenarbeiteten, wo sich Audre Lorde, May Ayim und weitere Schwarze deutsche Aktivistinnen kennenlernten und vernetzten, wo die deutschen Black-History-Month-Festivitäten 1990 Einzug hielten und der diasporische Graswurzelaktivismus insgesamt am üppigsten gedieh.

Eine neue Welle des Schwarzen deutschen Aktivismus: ISD, ADEFRA und Black Lives Matter

Das zweite Kapitel bietet die erste umfassende Geschichte der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD), die sich ab ihrer Formierung Mitte der 1980er Jahre gegen die deutsche „ideology of ‚racelessness‘“ (S. 54) stellte und damit gegen zwei besonders persistente Illusionen: erstens, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, und zweitens, dass es in Deutschland keinen Rassismus gebe. Organisiert in Ortsgruppen (zunächst v.a. in Westdeutschland, nach dem Mauerfall aber auch zunehmend in der ehemaligen DDR) erfanden Schwarze Deutsche neue gemeinsame Traditionen wie die jährlichen Bundestreffen in unterschiedlichen deutschen Städten oder die Feierlichkeiten rund um den Black History Month (siehe insbes. Kap. 5). Sie kreierten dadurch einen „black sense of place“ (McKittrick 2011, 949f.) und forderten konkrete antirassistische Veränderungen in Sprache, Gesetzgebung und Repräsentation. Eine der zentralen Errungenschaften war 2006 die Aufnahme des Lemmas „Afro-Deutsch“ in den Duden. Aufgrund der Überrepräsentation von Frauen in der ISD wurde mittels Männerquoten für bestimmte Funktionen eine ausgewogene Vertretung der Geschlechter angestrebt. Darüber hinaus kooperierte die ISD mit weiteren rassisierten Minoritäten in Deutschland und solidarisierte sich mit People of Color über Deutschland und Europa hinaus (u.a. mit südafrikanischen Anti-Apartheid-Aktivist*innen).

Schwarze deutsche Frauen begründeten nicht nur die ISD mit, sondern initiierten mit Afrodeutsche Frauen/Schwarze Frauen in Deutschland e.V. (ADEFRA) auch ein spezifisch Schwarzes queer-feministisches Forum, dessen Entwicklung im Zentrum des dritten Kapitels steht. Die Gründung 1986 war eine Reaktion sowohl auf den weißen deutschen Mainstream-Feminismus, der die multiplen Unterdrückungsverhältnisse Schwarzer Frauen in Deutschland ignorierte, als auch auf misogyne, sexistische und homophobe Tendenzen innerhalb der ISD (mit der aber dennoch oder gerade deshalb weiter intensiv zusammengearbeitet wurde). Der Name ADEFRA bedeutet „die Frauen, die Mut zeigen“ (S. 81) auf Amharisch, der offiziellen Sprache in Äthiopien, und verweist auf die ‚vorgestellte Gemeinschaft‘ (imagined community) zwischen afro-deutschen, afrikanischen und anderen Schwarzen Frauen, die für die Organisation zentral war und in ihren transnationalen Kooperationen (u.a. der Teilnahme an und Ausrichtung von internationalen feministischen Konferenzen) Ausdruck fand.

Im Epilog zeigt Florvil Kontinuitäten bis in die Gegenwart auf. Wie von ISD und ADEFRA sei es auch das Ziel der Black-Lives-Matter-Aktivist*innen, Deutschland zu verändern, indem sie auf das nach wie vor bestehende Rassismus-Problem hinweisen. Die Organisatorinnen in Deutschland knüpften an eine Tradition des radikalen Aktivismus Schwarzer Frauen – insbesondere jenen May Ayims – an und zeigten, dass dieser immer noch seinen Platz in der Nation hatte.

Der Stift als Schwert: Schwarzer deutscher Literaturaktivismus

Inspiriert durch Audre Lorde mündete der Austausch zwischen May Ayim, Katharina Oguntoye und weiteren Schwarzen deutschen Frauen 1986 in die bahnbrechende Publikation „Farbe bekennen“ – eine Mischung aus Gesprächen, geschichtswissenschaftlichen Aufsätzen, autobiografischen Texten und Gedichten über Schwarze deutsche und europäische Erfahrungen. Der Band eröffnete Räume für Schwarze Literatur und Schwarze Frauengeschichte in Deutschland und zeigte, wie nah das Persönliche, Affektive, Öffentliche und Politische im Alltag der Autorinnen zusammenlagen. Kapitel vier widmet sich insbesondere May Ayim, über die Florvil schreibt: „Her writing was not merely a component of her politics, but it was her politics“ (S. 117).

Wichtige literaturaktivistische Organe der entstehenden Schwarzen deutschen Bewegung waren auch die Literaturzeitschriften der ISD, „Onkel Tom‘s Faust“ bzw. ab 1989 „Afro look“ und der ADEFRA, „Afrekete: Zeitung für afro-deutsche und schwarze Frauen“ (1988-90). Der letztgenannte Titel verwies auf die afrikanische Trickster-Göttin Afrekete und unterstrich das Ziel, positive und ermächtigende Bilder und herstories von Frauen der Schwarzen Diaspora zu vermitteln. Florvil veranschaulicht, u.a. durch die Besprechung einiger Gedichte im dritten Kapitel, wie die Beiträgerinnen essentialistische Vorstellungen von Afrika dekonstruierten und die Hypokrisie der weißen Deutschen entlarvten.

Im Rahmen des fünften kulturübergreifenden Sommerinstituts für Schwarze Frauenstudien, das 1991 erstmals in Deutschland tagte und sich dem Thema eines Schwarzen Europas widmete, setzten die Teilnehmerinnen ebenfalls auf die Macht des gedruckten Wortes, um ihr Wissen und ihre Forderungen zirkulieren zu lassen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Instituts wurden Beschlüsse verschriftlicht. Diese befassten sich mit Fragen des kolonialen Erbes, der Globalisierung und der durch race, class und gender bedingten Ungleichheiten und stellten laut Florvil ein geradezu revolutionäres Dokument dar (vgl. S. 170), das zwar keine unmittelbaren realpolitischen Veränderungen, dafür aber nachhaltige Allianzen zwischen v.a. europäischen Women-of-Color-Aktivistinnen nach sich zog.

Florvil betont, dass der literarische Aktivismus Schwarzer Deutscher seither keineswegs versiegt sei. Neben zahlreichen (Auto-)Biografien, u.a. von Ika Hügel-Marshall (1998), Marie Nejar (geschrieben von Regina Carstensen, 2007), Bärbel Kampmann (geschrieben von ihrem Mann, Harald Gerunde, 2000), Abini Zöllner (2003), ManuEla Ritz (2009) und Theodor Michael (2013), veröffentlichten afro-deutsche Autor*innen der jüngeren Generationen wie Olumide Popoola, Victoria Toney-Robinson, Noah Sow, Philipp Khabo Koepsell und Schwarzrund in ganz unterschiedlichen Genres (S. 127f.). Anlässlich des 30jährigen Jubiläums der ISD erschien 2015 außerdem der Band „Spiegelblicke“ (Bergold-Caldwell et al. 2015), der biografische Porträts, Interviews, Gedichte und Essays von Schwarzen deutschen Alltagsintellektuellen unterschiedlicher Generationen versammelt (vgl. S. 137).

Ein wichtiger Beitrag zu den Black German und Black European Studies

Was Gloria Wekker (2016, 17) in Bezug auf die Kategorie der (critical) „whiteness“ feststellte, nämlich dass uns in einem europäischen Kontext immer noch Einzelstudien fehlen, die intra-europäische Vergleiche ermöglichen würden, erweist sich für die Kategorie der „blackness“ oder des Schwarzseins in unterschiedlichen Disziplinen als ebenso wahr. Es tut sich jedoch so einiges – im Bereich der Geschichtswissenschaft erschien zuletzt Olivette Oteles Werk „African Europeans: An Untold History“ (2020) und mit „Locating African European Studies“ (Garrido et al. 2020) ein wegweisender interdisziplinärer Sammelband. Solche kontinentalen Überblickswerke sind jedoch immer von kleinräumigeren, sprachraumbezogenen oder nationalen Vorarbeiten abhängig – solch eine hatte Tiffany N. Florvil bereits mit ihrem gemeinsam mit Vanessa D. Plumly herausgegebenen Sammelband „Rethinking Black German Studies“ (2018) vorgelegt, der sich nicht ausschließlich auf Deutschland, sondern auf den deutschen Sprach- und Kulturraum bezieht und beispielsweise auch ein Kapitel über die Black Austrian Studies (von Nancy P. Nenno) enthält.

Florvils Monografie „Mobilizing Black Germany“ bietet eine wertvolle zeitgeschichtliche Ergänzung für die Periode nach den 1970er Jahren, die sich durch eine dezidiert feministische intersektionale Perspektive sowie durch besonders akribische Recherchearbeit, u.a. in privaten und über Deutschland verstreuten feministischen und lesbischen Archiven, auszeichnet. Der Fokus auf Personen wie Audre Lorde und May Ayim, Organisationen wie die ISD und ADEFRA, Veranstaltungsformate wie den Black History Month und das Sommerinstitut für Schwarze Frauenstudien sowie auf das Publizieren als strategisch wichtige Maßnahme eines Schwarzen intellektuellen Aktivismus bieten Leser*innen die Möglichkeit, die Schwarze deutsche Bewegung von unterschiedlichen Teilbereichen her kennenzulernen – einmal mehr persönlich-anekdotisch, etwa durch unveröffentlichte Gedichtzeilen May Ayims oder die private Korrespondenz Gloria Wekkers und Audre Lordes, ein anderes Mal distanziert-sachlich durch die Funktionsweise und Zusammensetzung von Organisationen und Einblicke in die Planung und Ausrichtung von Veranstaltungen. Das Ziel, eine umfassende, Academia, Aktivismus, Kunst und Literatur in ihren wechselseitigen Verschränkungen berücksichtigende Geschichte der modernen Schwarzen Bewegung vorzulegen, ist Florvil ebenso gelungen wie die Nachzeichnung der bedeutenden Rolle afro-deutscher Akteurinnen und des Bewusstseins einer Schwarzen transnationalen diasporischen Gemeinschaft.

„Mobilizing Black Germany“ eignet sich aufgrund der sorgfältigen Einführung, Rahmung der Einzelkapitel, Querverweise und des umfassenden Index auch gut für Querleser*innen und Personen, die mit der Thematik noch weniger gut vertraut oder – wie die Rezensentin – keine Historiker*innen, sondern Geschlechterforscher*innen mit stärker literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsinteressen sind. Die Breite der avisierten, primär studentisch-akademischen Zielgruppe stellt in Anbetracht des florierenden, interdisziplinären und transnationalen Forschungsfeldes der Black German Studies sicherlich einen Vorteil dar. Im Hinblick auf eine größere, europäische oder auch transkontinentale Perspektive (wie sie schon Paul Gilroy mit seinem Konzept des „Black Atlantic“ [1993] vorschlug und wie sie auch die „Black European Studies“ verfolgen) ist es zudem vorteilhaft, dass Florvils Buch auf Englisch veröffentlicht wurde. Dadurch steht es nicht nur (aber doch auch) einem deutschsprachigen Zielpublikum offen. Stilistisch ist der Band auf Verständlichkeit ausgelegt. Die Autorin verzichtet auf akademisches Geschwurbel und die Wiedergabe von deutschen Zitaten in der Originalsprache; sie verwendet Abkürzungen, wenn dies dem Lesefluss dient, und wiederholt auch regelmäßig zentrale Informationen, die schon etwas weiter zurückliegen. An manchen Stellen, z.B. wenn Konferenzen und insbesondere einzelne Programmpunkte, Vortragstitel und Namen von Sprecher*innen rekapituliert werden, verliert sich Florvil etwas zu sehr in Aufzählungen, wo es meiner Einschätzung nach zweckmäßiger gewesen wäre, mit ausgewählten Beispielen Tendenzen aufzuzeigen und dem Anspruch auf annähernde Vollständigkeit durch Listen im Anhang nachzukommen.

„Mobilizing Black Germany“ verweist auch auf Bereiche, die noch weiterer Forschung harren – teils expliziter, indem beispielsweise mehrmals betont wird, dass ‚Klasse‘ für v.a. westdeutsche Schwarze Aktivist*innen eine eher untergeordnete Rolle spielte, die Situation in der DDR oder der Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung aber auch nur gestreift werde; teils impliziter, indem zwar beinahe durchgängig, aber dennoch eher nebenbei, von der wichtigen Bedeutung der Literatur und des Publizierens für die Schwarze deutsche Bewegung die Rede ist – ein Bereich, der literaturwissenschaftlich noch wenig erforscht ist. Die von Florvil und Plumly neu gegründete Reihe „Imagining Black Europe“ (Peter Lang) lässt allerdings auf eine baldige weitere Erschließung der Black European Studies hoffen – ein interdisziplinäres Forschungsfeld, dessen Relevanz in Anbetracht eines kürzlich von Michelle Bachelet (Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen) vorgelegten Berichts, in dem die Alltäglichkeit eines strukturellen Rassismus gegen Schwarze in europäischen Ländern nachgewiesen wird, wohl kaum überschätzt werden kann (vgl. Bachelet 2021).

Literatur

Ayim, May (1995): blues in schwarz weiss. Gedichte. Berlin: Orlanda.

Ayim, May (1997): nacht gesang. Berlin: Orlanda.

Bachelet, Michelle (2021): Promotion and Protection of the Human Rights and Fundamental Freedoms of Africans and of People of African Descent Against Excessive Use of Force and Other Human Rights Violations by Law Enforcement Officers. https://undocs.org/A/HRC/47/53 (30. Juni 2021).

Bergold-Caldwell, Denise/Digoh-Ersoy, Laura/Haruna-Oelker, Hadija/Nkwendja-Ngnoubamdjum, Christelle/Ridha, Camilla/Wiedenroth-Coulibaly, Eleonore (Hg.) (2015): Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland. Berlin: Orlanda.

Florvil, Tiffany N./Plumly, Vanessa D. (Hg.) (2018): Rethinking Black German Studies. Approaches, Interventions and Histories. Berlin, Wien: Peter Lang. doi: https://doi.org/10.3726/b11568

Garrido, Felipe Espinoza/Koegler, Caroline/Nyangulu, Deborah/Stein, Mark U. (Hg.) (2020): Locating African European Studies. Interventions, Intersections, Conversations. London, New York: Routledge.

Gerunde, Harald (2000): Eine von uns. Als Schwarze in Deutschland geboren. Wuppertal: Hammer.

Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Hügel-Marshall, Ika (1998): Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben. Berlin: Orlanda.

Lennox, Sara (Hg.) (2016): Remapping Black Germany. New Perspectives on Afro-German History, Politics, and Culture. Amherst, Boston: University of Massachusetts Press. doi: https://doi.org/10.2307/j.ctv3t5qph

McKittrick, Katherine (2011): On Plantations, Prisons, and a Black Sense of Place. In: Social & Cultural Geography 12 (8), 947-963. doi: https://doi.org/10.1080/14649365.2011.624280

Michael, Theodor (2013): Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen. München: dtv.

Nejar, Marie (2007): Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist. Meine Jugend im Dritten Reich. Aufgeschrieben von Regina Carstensen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Oguntoye, Katharina/Opitz, May/Schultz, Dagmar (Hg.) (1986): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin: Orlanda.

Opitz, May/Oguntoye, Katharina/Schultz, Dagmar (Hg.) (1992): Showing Our Colors. Afro-German Women Speak Out. Übersetzt von Anne V. Adams. Mit einem Vorwort von Audre Lorde. Amherst, Boston: The University of Massachusetts Press.

Otele, Olivette (2020): African Europeans. An Untold History. London: Hurst & Company.

Ritz, ManuEla (2009): Die Farbe meiner Haut. Die Anti-Rassismus-Trainerin erzählt. Freiburg, Br., Basel, Wien: Herder.

Wekker, Gloria (2016): White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race. Durham: Duke University Press. doi: https://doi.org/10.2307/j.ctv11cw6fs

Wright, Michelle M. (2015): Physics of Blackness. Beyond the Middle Passage Epistemology. Minneapolis: University of Minnesota Press. doi: https://doi.org/10.5749/minnesota/9780816687268.001.0001

Zöllner, Abini (2003): Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.