Open Gender Journal (2022) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Orte der Lebbarkeit schaffen.
Das neue Personenstandsrecht fordert die Soziale Arbeit auf, sich zu bewegen

Rezension von Ute Zillig


Rezensionen zu Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.): Geschlecht: divers. Die ‚Dritte Option‘ im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit.
Bielefeld: transcript Verlag 2021.
261 Seiten, ISBN 978-3-8376-5341-0, 34,00 Euro


Abstract

Welche Bedeutung hat die neu geschaffene ‚Dritte Option‘ im Personenstandsgesetz für die Profession Soziale Arbeit? Soziale Arbeit ist dringend aufgefordert, sich auf dem Weg hin zu mehr geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zu machen, sich weiterzuentwickeln und den eigenen Beitrag an der Zementierung einer zweigeschlechtlichen Ordnung zu hinterfragen. Im Sammelband „Geschlecht: divers“ sind hierzu wertvolle Beiträge gebündelt, die entlang von Einblicken in verschiedene Arbeitsfelder sowohl zu notwendigen professionellen (Selbst-)Reflexionen als auch zu institutionellen Weiterentwicklungen im Sinne geschlechtlicher und sexueller Vielfalt anregen. Mit theoretischen Bezügen zu queeren, feministischen und postkolonialen Arbeiten diskutieren die Autor:innen Wege, Soziale Arbeit in Forschung, Lehre und der beruflichen Praxis jenseits heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit auszurichten.

Schlagworte: Geschlecht, Soziale Arbeit, Intersexualität, Transsexualität

Zitationsvorschlag: Zillig, Ute (2022): Orte der Lebbarkeit schaffen. Das neue Personenstandsrecht fordert die Soziale Arbeit auf, sich zu bewegen. Rezension zu: Melanie Groß, Katrin Niedenthal (Hg.) (2021): Geschlecht: divers. In: Open Gender Journal 6. doi: 10.17169/ogj.2022.187.

Copyright: Ute Zillig. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2022.187

Veröffentlicht am: 10.01.2022

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Seit 2018 sieht das Personenstandsgesetz mit weiblich, männlich, divers und kein Eintrag vier Optionen beim Geschlechtseintrag vor. Zweigeschlechtlichkeit als unhinterfragbare Norm und gesellschaftliche Struktur ist von sozialen Realitäten und Bewegungen eingeholt worden. Und die sogenannte Dritte Option schafft auf juristischer Ebene neue Möglichkeiten, geschlechtlicher und sexueller Vielfalt gerechter zu werden.

Was lassen diese Entwicklungen für die Profession Soziale Arbeit erwarten? Spätestens mit der Gesetzesreform wird sie als menschenrechtsgeleitete Profession ihre Annahmen und Konzepte von Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechtersensibilität in Bewegung bringen. Sie wird sich als Profession im Sinne ihrer Adressat:innen in den interdisziplinären Dialog mit u.a. der Medizin und der Psychologie begeben und – nah entlang an den spezifischen und oft vulnerablen Lebenslagen von trans-, intergeschlechtlichen und non-binären Adressat:innen – einmal mehr für Räume geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, für eine Sichtbarkeit von bislang viel zu wenig beachteten Körperlichkeiten, Selbst- und Lebensentwürfen eintreten.

Angemessen wäre das. Doch die gegenwärtige Realität sieht noch ganz anders aus. Professionsintern öffnen sich einzelne Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit nur sehr langsam und in zähen Prozessen der geschlechtlichen und sexuelle Vielfalt. Und über die Soziale Arbeit hinaus lassen erstarkende rechtspopulistische und rechtskonservative Kräfte eher einen geschlechterpolitischen Backlash als emanzipatorische Prozesse befürchten. Die Infragestellung der Istanbul-Konvention als sogenannte Gender-Ideologie oder auch das laute Eintreten gegen eine inklusive und geschlechtergerechte Sprache sind hier nur zwei Beispiele.

Wertvoll und notwendig ist vor diesem Hintergrund die Ausrichtung des nun vorliegenden Sammelbandes „Geschlecht: Divers“ von Melanie Groß und Katrin Niedenthal. Die Herausgeber:innen formulieren als professionsspezifische Herausforderung, „sich in dem Spannungsfeld von einerseits der Wirkmächtigkeit von Zweigeschlechtlichkeit und andererseits der Kritik an Zweigeschlechtlichkeit zu bewegen“ (S. 9). Mit theoretischen Bezügen zu queeren, feministischen und postkolonialen Theorieansätzen und in Anknüpfung an die handlungspraktischen Arbeiten von u.a. Nadine Bochert, Petra Focks und Andrea Nachtigall (2018), Andreas Hechler (2015) sowie Mart Enzendorfer und Paul Haller ( 2020) plädieren sie gemeinsam mit den weiteren Autor:innen des Bandes für eine Neujustierung Sozialer Arbeit im Sinne geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. Ein besonderer Fokus des Bandes liegt dabei auf dem Thema Intergeschlechtlichkeit.

Mit der breiten inhaltlichen Ausrichtung und insbesondere dem Bezug zu zahlreichen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit werden sowohl Forschende, Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit als auch in der Praxis tätige Fachkräfte als Zielgruppe adressiert.

Angstfreie Orte, Mut und Zuversicht in der Praxis Sozialer Arbeit

Sehr gelungen wird entlang dreier Beiträge in die Thematik geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Sozialen Arbeit eingeführt: Autor:in Vanja konstatiert zunächst u.a. entlang biografischer Bezüge, langjähriger Bündnisarbeit und politischer Veränderungsprozesse, dass die Soziale Arbeit selbst ein Problem hat. „Ich will, dass die Leute endlich akzeptieren, dass wir da sind. Als Inter* und Trans*. Und dass wir okay sind, wie wir sind. Ich will, dass es aufhört, dass wir angepasst und unsichtbar gemacht werden“ (S. 19). Erkämpfte Errungenschaften im Kontext der Dritten Option sind für Vanja kein Ziel am Ende einer politischen Bewegung, sondern ein notwendiger Startpunkt für weitere gesellschaftliche Veränderungen. Katrin Niedenthals einführender Beitrag ist dann insbesondere für Akteur:innen in Hochschulen Sozialer Arbeit von hoher Relevanz. Prägnant und anschaulich werden jüngste rechtliche Entwicklungen, u.a. im Personenstandsrecht und im Transsexuellengesetz, sowie in diesem Zusammenhang stehende Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts dargestellt. Auf dieser Grundlage wird dann der institutionelle Umgang mit nicht-binären Geschlechteridentitäten (bspw. Anerkennung selbstgewählter Vornamen) diskutiert. Melanie Groß bietet anschließend eine sehr wertvolle professionstheoretische Einführung. Sie widmet sich poststrukturalistischen, queeren und postkolonialen theoretischen Bezügen und verknüpft diese mit einer Diskussion um Anforderungen an das professionelle Handeln von Fachkräften Sozialer Arbeit. Groß formuliert dringenden Bedarf an arbeitsfeldspezifischen Konzepten, die geschlechtliche und sexuelle Emanzipation ermöglichen, und an die Soziale Arbeit den Anspruch, „Ausschließungen, Benachteiligungen und Verletzungen von und an Subjekten, die durch eine heteronormativ verfasste Gesellschaft hervorgebracht werden, als einen zentralen Gegenstand der Profession an(zu)erkennen“ (S. 55).

Es folgen Beiträge mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen, die sich im Anliegen einen, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in den Fokus von professioneller Praxis wie Theoriebildung zu stellen.

Anike Krämer und Katja Sabisch stellen in ihrem Aufsatz historische Entwicklungen im Feld der Intersexualität als soziale Kategorie dar und gehen dabei insbesondere auf die normierende Macht der Profession Medizin ein. Hegemoniale pathologisierende und normierende (medizinische) Denkstile im Kontext von Intersexualität werden von den Autor:innen kritisch hinterfragt und als emanzipatorischen Prozessen entgegenstehend diskutiert. Joris Gregor plädiert dafür, auch in der Sozialen Arbeit Geschlecht in seiner Komplexität anstatt in einer vermeintlichen Binarität wahrzunehmen, und rahmt die Begründung eines handlungspraktischen Bedarfs an geschlechtersensiblen Konzepten mit theoretischen Bezügen, in denen u.a. die produktive Bedeutung von Intersexualität für das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit aufgezeigt wird. Wertvoll sind in diesem Beitrag insbesondere die Ausführungen zum kolonialisierenden Charakter westlichen Erklärungswissens bezüglich Intersexualität im Verhältnis zu indigenen Konzeptionen von geschlechtlicher Vielfalt.

Zwei weitere Beiträge sind der Institution Schule gewidmet. Mart Enzendorfer unterstreicht die Forderung des Einbezugs der Lebenswirklichkeit und der spezifischen Problematiken intersexueller Schüler:innen in die professionelle Praxis. Normalisierungszwänge sowie Macht- und Ungleichheitsverhältnisse im schulischen Kontext sollten in den Fokus geraten, um Räume des Sagbaren für intersexuelle junge Menschen zu öffnen. Und Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas bieten auf Grundlage zahlreicher empirischer Befunde mit konkreten Handlungsempfehlungen für die Schulsozialarbeit (u.a. Schutzräume, Gruppenarbeit und Einzelfallhilfe).

Elena Barta und Kathrin Schrader brechen in ihrem Text häufig sehr abstrakt geführte theoretische Debatten im Kontext von Intersektionalität auf konkrete Ausschlüsse und individualisierende Deutungsweisen in der professionellen Praxis von Psychiatrie und Justizvollzug herunter. Sie plädieren dabei sehr anregend für ein Gegenhandeln auf zwei Ebenen: der Wissensproduktion in der Forschung einerseits und der Praxis andererseits. Die Perspektive von Betroffenen in ihrer spezifischen gesellschaftlichen Positionierung sollte dabei jeweils zum Ausgangspunkt gemacht werden.

Eine hohe Relevanz für Hochschullehrende besitzt auch der Beitrag von Heinz-Jürgen Voß. Voß beleuchtet die Beziehung zwischen Aktivismus im Kontext geschlechtlicher Vielfalt und der Profession Sozialer Arbeit. In Hinblick auf die Verankerung von Intergeschlechtlichkeit werden erhebliche Defizite in den Bereichen Ausbildung, Fort- und Weiterbildung sowie in Sozialer Arbeit als Handlungsfeld ausgemacht. Vor diesem Hintergrund schließt der Beitrag mit einem Plädoyer für eine curriculare Verankerung des Themas an den Hochschulen Sozialer Arbeit.

Anne Rimbach und Moritz Prasse widmen sich geschlechtlicher Vielfalt in der (offenen) Jugendarbeit und begründen für dieses Arbeitsfeld die spezifische Notwendigkeit, angstfreie Orte der Lebbarkeit geschlechtlicher Vielfalt zu schaffen. Sehr interessant sind Prasses Ausführungen zur Unsichtbarkeit von intergeschlechtlichen Jugendlichen in der queeren Jugendarbeit und zu den diesbezüglichen handlungspraktischen Konsequenzen für einzelne Mitarbeiter:innen in Jugendzentren.

Melanie Groß und Andreas Hechler gehen in einem für die Ausbildung und Diskussion eines professionellen Selbstverständnisses in der Sozialen Arbeit sehr anregenden Beitrag auf Geschlecht in Erziehungs- und Bildungsprozessen ein und fokussieren dabei auf Anforderungen an geschlechtersensible Selbstreflexion von Fachkräften, die sie als Voraussetzung für unterstützende Kontakte im Sinne einer advokatorischen Grundhaltung begreifen.

Daniel Lembke-Peters diskutiert in Anlehnung an das wertvolle von Mai-Anh Boger (2019) aufgestellte (politische) Trilemma zwischen Normalisierung, Empowerment und Dekonstruktion die Bedeutung von Politiken der Anerkennung und der Netzwerkarbeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der LSBTIQ-Bewegung.

Zuletzt geht Ursula Rosen vor dem Hintergrund ihrer biografischen Erfahrungen als Mutter eines intersexuellen Kindes auf unnötige Tabuisierungen, Pathologisierungen sowie massive Abwertungen von Intersexualität in der Elternarbeit ein und formuliert entlang unterschiedlicher Lebensphasen von Kindern und Jugendlichen Anforderungen an eine entdramatisierende, Mut und Zuversicht spendende Elternarbeit, die die geschlechtliche Einzigartigkeit eines jeden Kindes als ihren Ausgangspunkt begreift.

Wertvolle Anregungen für die Hochschullehre in der Sozialen Arbeit

Der Sammelband „Geschlecht: Divers“ bietet sehr anwendungsbezogene und ebenso vielseitige Impulse, die Soziale Arbeit in Richtung zu mehr sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Bewegung zu bringen. Wollte man eine Schwachstelle der Sammlung ausmachen, könnte gerade die Vielseitigkeit der Beiträge als solche betrachtet werden. Eine stärkere Fokussierung auf einzelne Arbeitsfelder wäre eventuell geeigneter gewesen, das (auch) von den Herausgeber:innen unterstrichene Spannungsfeld zwischen der Wirkmächtigkeit von Zweigeschlechtlichkeit einerseits und der Kritik an Zweigeschlechtlichkeit andererseits genauer und auf die je spezifische professionelle Praxis hin zu diskutieren. Nichtsdestotrotz überzeugt der Band auch in seiner inhaltlichen Spannweite, und das insbesondere durch seine durchgängig hochwertigen und anregenden Beiträge. Entlang professionstheoretischer Fragen um Macht und Verantwortung und wertvoller Diskussionen um das politische Mandat der Sozialen Arbeit gelingt es den Autor:innen, Wege hin zu mehr geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in der Sozialen Arbeit zu konkretisieren. Wiederkehrend werden gerade solche Prozesse in den Vordergrund gestellt, die sich an der spezifischen Perspektive besonders vulnerabler Adressat:innen Sozialer Arbeit orientieren.

Der Sammelband ist dabei für eine breite Zielgruppe konzipiert und auch geeignet. Er bietet insbesondere für die Hochschullehre sehr wertvolle Anregungen beispielsweise für Einheiten professionsspezifischer (Selbst-)Reflexion oder für angewandte Diskussionen um geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in den aufgeführten Arbeitsfeldern.

Literatur

Bochert, Nadine/Focks, Petra/Nachtigall, Andrea (2018): Trans*, Inter* und genderqueere Jugendliche in Deutschland – partizipativ-empowernde Unterstützungsangebote und ihre Bedeutung für eine menschenrechtsbezogene Soziale Arbeit. In: Spatscheck, Christian/Steckelberg, Claudia/DGSA (Hg.): Menschenrechte und Soziale Arbeit. Berlin, Toronto: Budrich, 231–243. doi: 10.2307/j.ctvd7w8g4.20

Boger, Mai-Anh (2019): Theorie der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken. Münster: edition assemblage.

Enzendorfer, Mart/Haller, Paul (2020): Intersex and Education: What can Schools and Queer School Projects learn from Current Discourses on Intersex in Austria? In: Francis, Dennis A./Kjaran, Jón Ingvar/Lehtonen, Jukka (Hg.): Queer Social Movement and Outreach Work in Schools. Queer Studies and Education. Cham: Palgrave Macmillan, 261–284. doi: 10.1007/978-3-030-41610-2_12

Hechler, Andreas (2015): Intergeschlechtlichkeit in Bildung, Pädagogik und Sozialer Arbeit. In: BMFSFJ (Hg.): Geschlechtliche Vielfalt. Begrifflichkeiten, Definitionen und disziplinäre Zugänge zu Trans- und Intergeschlechtlichkeiten. Begleitforschung zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- und Transsexualität. Berlin, 61–74. doi: 10.30820/9783837967999-161