Open Gender Journal (2021) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Ein ambivalentes Verhältnis – Die Wechselbeziehungen der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung

Rezension von Anja Degner


Rezensionen zuVincent Streichhahn, Frank Jacob (Hg.): Geschlecht und Klassenkampf.
Die „Frauenfrage” aus deutscher und internationaler Perspektive im 19. und 20. Jahrhundert.
Berlin: Metropol Verlag 2020
337 Seiten, ISBN: 978-3-86331-559-7, € 24,00


Abstract

Vincent Streichhahn und Frank Jacob haben einen Sammelband veröffentlicht, welcher den Untersuchungsgegenstand der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung und deren Verflechtungen im Fokus hat. Mit dem Schwerpunkt auf das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert arbeiten die ausgewählten Autor:innen die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Bewegungen heraus. Die Herausgeber bekräftigen mit ihrer Publikation, dass die Frauenbewegung nicht ohne die Arbeiter:innenbewegung erzählt werden kann. Zudem kritisieren sie die patriarchale Geschichtsschreibung, die für die Unsichtbarkeit der Untersuchungskategorie „Geschlecht“ verantwortlich ist. Mit diesem Band verfolgen sie das Ziel, dieser Geschichtsschreibung entgegenzuwirken und anhand historischer Rückblicke die Verschränkungen nationaler und internationaler Perspektiven auf die Kategorien „Geschlecht“ und „Klasse“ zu verdeutlichen.

Schlagworte:Feminismus, Frauenbewegung, Arbeit, Klasse

Zitationsvorschlag: Degner, Anja (2021): Eine ambivalente Relation – Die Wechselbeziehungen der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung. Rezension zu: Vincent Streichhahn, Frank Jacob (Hg.): Geschlecht und Klassenkampf. Die „Frauenfrage“ aus deutscher und internationaler Perspektive im 19. und 20. Jahrhundert. In: Open Gender Journal (2021). doi: 10.17169/ogj.2021.190.

Copyright:Anja Degner. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2021.190

Veröffentlicht am: 06.12.2021

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Patriarchale Geschichtsschreibung

Wie viele andere gesellschaftliche Bewegungen ist auch die Frauenbewegung kein homogener Zusammenschluss von Akteur:innen. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche, teilweise zeitgleich stattfindende Gerechtigkeitsbestrebungen, die nicht unter einem Terminus im Singular subsumiert werden können. Verschiedene Ziele und Mittel zur Befreiung der Frau zersplitterten die Bewegung bis heute. Clara Zetkin bringt dies 1896 in ihrer Rede „Nur mit der proletarischen Frau wird der Sozialismus siegen!“ auf den Punkt: „Es gibt eine Frauenfrage für die Frauen des Proletariats, des Mittelbürgertums und der Intelligenz und der oberen Zehntausend; je nach Klassenlage dieser Schichten nimmt sie eine andere Gestalt an.“ (Gerhard/Pommerenke/Wischermann 2008, 191.)

Die Herausgeber Vincent Streichhahn und Frank Jacob gehen mit ihrem 2020 erschienenen Sammelband „Geschlecht und Klassenkampf. Die ‚Frauenfrage‘ aus deutscher und internationaler Perspektive im 19. und 20. Jahrhundert“ der Frage nach der historischen Verschränkung der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung nach. Als wesentliches Ziel der Publikation benennen die Herausgeber die Sichtbarmachung der Verflechtung von Geschlechtergerechtigkeit mit der Klassenfrage. Mit ihrem Band beabsichtigen sie der hegemonialen patriarchalen Geschichtsschreibung entgegenzuwirken und die scharfe Trennung der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung aufzulösen. Die Publikation ist der 6. Band aus der Reihe „Alternative ǀ Demokratien. Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie und des Sozialismus“ des Metropol Verlags. Sie teilt sich in zwei gleich große Kapitel, welche mit je sieben Fachbeiträgen einer nationalen und einer internationalen Perspektive gewidmet sind. Die ausgewählten Artikel stammen von Autor:innen aus den Fachbereichen Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaft, die sich im Themen- und Forschungsfeld rund um die Frauen- und Arbeiter:innenbewegung situieren. Lobend hervorzuheben ist das ausgeglichene Verhältnis an männlichen und weiblichen Autor:innen. Im Anhang des Bandes finden sich zusätzlich kurze Vorstellungstexte zu allen beteiligten Wissenschaftler:innen.

Keine Emanzipation ohne Klassendiskurs

Im Gegensatz zur Kategorie Klasse blieb die Kategorie Geschlecht lange unerforscht (vgl. S. 13). Grund dafür ist die patriarchale Geschichtsschreibung, welche vor allem weibliche Lebensrealitäten auch noch bis heute unsichtbar macht. Das Recht auf Bildung, politische Teilhabe und die rechtliche Gleichstellung der Frau waren und sind seit jeher Forderungen der Frauenbewegungen zur Erlangung von Geschlechtergerechtigkeit. Die Arbeiter:innenbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts stellte sich jedoch oft gegen diese Forderungen und sah beispielsweise in der Berufstätigkeit der Frau ein Übel, welches verhindert werden müsse (vgl. Gerhard 2009, 57). Frauen, die innerhalb der männlich dominierten Arbeiterbewegung agierten, mussten sich folglich zunächst politische Teilhabe in den eigenen Reihen erkämpfen (vgl. S. 7).

Kerstin Wolff, Mitarbeiterin im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, sieht in ihrem Vorwort zum Buch die Relevanz und das Besondere der Publikation vor allem in deren Anschlussfähigkeit an aktuelle Genderdebatten. Im einleitenden Aufsatz geben die Herausgeber Vincent Streichhahn und Frank Jacob einen Überblick über den Aufbau des Sammelbandes und verdeutlichen den Zweck der Publikation – die Kritik an patriarchaler Geschichtsschreibung und die Thematisierung der Kategorien „Geschlecht“ und „Klasse“. Sie stellen heraus, dass im ersten, sich dem deutschen Kontext widmenden Teil eine Redundanz innerhalb der Artikel unumgänglich sei (vgl. S. 18). Dieser Redundanz hätten die Herausgeber jedoch an einigen Stellen zuvorkommen können. So ist es beispielsweise verwunderlich, warum gleich zwei Beiträge zur Rätebewegung in Deutschland Eingang in den Band gefunden haben. Eventuell wäre hier eine Reduktion des ersten Teils zugunsten des internationalen zweiten Teils vorteilhafter für die Themendiversität der Publikation gewesen.

Das erste Kapitel startet mit einem in die proletarische und bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland einleitenden Beitrag der Historikerin Gisela Notz. Während die bürgerliche Strömung eher reformorientiert wirken wollte und sich für die Emanzipation der Frau innerhalb der Verhältnisse einsetzte, kämpften die proletarischen Frauen für die Frauenbefreiung und die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse. Notz liefert einen detailreichen historischen Abriss mit Fokus auf die proletarische Frauenbewegung in Deutschland, beginnend mit der Industriellen Revolution und der damit einhergehenden Veränderung der Produktionsverhältnisse bis zum Ende der Bewegung mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die Autorin arbeitet in ihrem gehaltvollen Artikel zum Verhältnis von bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung den Dissens zwischen den Bewegungen deutlich heraus. Teilweise weist der Beitrag jedoch einen Mangel an Belegen zu Ausführungen auf (vgl. S. 30, 38ff.). Des Weiteren wäre eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „proletarische Frauenbewegung“ wünschenswert gewesen, da es sich dabei laut Renate Berger um eine Bewegung handelte, welche „unter männlichem Protektorat organisierte Zusammenschlüsse“ beinhaltete, die „der Klassenfrage Priorität vor der Frauenfrage einräumten“ (Berger 1982, 12). Zusätzlich fokussiert sich der Artikel einseitig intensiv auf die proletarische Frauenbewegung und deren Abgrenzung zur bürgerlichen. Zur inhaltlichen Ausbalancierung wäre eine zusätzliche Ausführung zur bürgerlichen Perspektive auf die proletarische zielführend gewesen.

Im abschließenden Beitrag des ersten Teils richtet die Historikerin und Juristin Marion Röwekamp die Aufmerksamkeit auf die emanzipatorischen Entwicklungen der bürgerlichen Frauenbewegung zur Zeit der Weimarer Republik. Die gesellschaftlichen Neuerungen für Frauen, welche im Vergleich zu denen im Kaiserreich einen radikalen Fortschritt bedeuteten, werden von der Autorin aufschlussreich und differenziert erörtert. So sorgte beispielsweise das Frauenwahlrecht für eine geforderte, aber auch ausbaufähige politische Teilhabe von Bürgerinnen. Die von der Sozialdemokratie durchgesetzten Rechte für Frauen entsprachen jedoch nicht den Vorstellungen vieler proletarischer Feministinnen, die sich im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit nicht vertreten fühlten (vgl. S. 179).

Im zweiten Kapitel des Sammelbandes liegt das Hauptaugenmerk auf der internationalen Perspektive der Verbindung von Frauen- und Arbeiter:innenbewegung. Mit den in der Geschichtsschreibung nur marginal vertretenen Saint-Simonistinnen, deren Emanzipationsbestrebungen in den 1820er Jahren in Frankreich beginnen, rückt Skadi Siiri Krause deren Verflechtungen mit der Arbeiter:innenbewegung in Frankreich in den Vordergrund. Jana Günther eruiert überzeugend die feministischen Entwicklungen in Russland, deren Beginn in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zarenreich zu verorten sind (vgl. S. 287). Ebenso wie Forderungen nach dem Recht auf Bildung und Lohnarbeit gingen feministische Forderungen in Russland Hand in Hand mit revolutionären Aktionen der Feministinnen (vgl. S. 290).

Frank Jacob beschließt den Band mit einem Artikel zu den Geschlechterrollen in Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie auch in Europa entsprach dort der Erste Weltkrieg einem transformatorischen Moment, welcher Emanzipationsbestrebungen förderte. So wurden beispielsweise Forderungen nach Ausbildungsmöglichkeiten und nach politischer Partizipation für Frauen, verbunden mit der Klassenfrage, laut (vgl. S. 326). Bedauerlicherweise verfehlt der Beitrag den thematischen Fokus des Bandes und verharrt vielmehr in nebensächlichen Erläuterungen. So ist beispielsweise nicht unmittelbar erkenntlich, ob Jacobs detaillierte Ausführungen zur ökonomischen Situation Japans nach dem Ersten Weltkrieg wirklich zielführend für die Untersuchung zu Klasse und Geschlecht sind.

Ungeachtet ihrer Qualität wirken die letzten beiden Beiträge unglücklicherweise wie ein notdürftiger Versuch, den eurozentristischen Fokus des Bandes aufzubrechen und dem Anspruch auf Internationalität gerecht zu werden. Außerdem wäre ein Text, der einen Bezug zwischen den beiden doch stark von aneinander getrennten Kapiteln herstellt, vorteilhaft gewesen. Wo liegen beispielsweise die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Frauenbewegungen in Deutschland und denen in Frankreich, Russland und Japan?

Eurozentrismus wider Willen

Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes haben mit der Auswahl der Beiträge ihr übergeordnetes Ziel erreicht, die Klassenfrage mit den Frauenbewegungen unterschiedlicher Länder zu verknüpfen und deren Wechselbeziehungen für die Forschung aufzuzeigen. Mit klarem roten Faden wird ein solider Überblick über die Klassendiskurse innerhalb dieser Bewegungen gegeben und herausgearbeitet, dass diese nie für sich alleinstehen, sondern immer Teil anderer politischer Verflechtungen sind. Der Großteil der Beiträge, welche sich dennoch auch in beliebiger Reihenfolge lesen lassen, wird dem Anspruch, anhand historischer Rückblicke damalige klassenpolitische Bewegungen mit geschlechterpolitischen zu verbinden, zweifellos gerecht.

Die Gliederung des Bandes in einen ersten auf Deutschland bezogenen Teil und einen zweiten internationalen Teil erweist sich zunächst als sinnvoll und leser:innenfreundlich. Doch leider werden die ausgewählten Beiträge dem titelgebenden Anspruch einer internationalen Perspektive nicht ganz gerecht. Statt dieser liegt der Schwerpunkt der Ausführungen vielmehr auf einer westlich-europäischen. Des Weiteren scheint der zeitliche Rahmen, der mit dem Titel gesetzt wurde, nicht wirklich eingehalten worden zu sein. Der Schwerpunkt der Publikation liegt vielmehr auf dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Zielführend wären aus diesem Grund Beiträge gewesen, die sich beispielsweise mit ersten feministischen Forderungen der 1848er Revolution, aber auch mit aktuellen politischen Debatten rund um Klasse und Geschlecht beschäftigen.

Der bewusst in Anführungsstriche gesetzte und auch im Titel befindliche Begriff „Frauenfrage“ wird im gesamten Band bedauerlicherweise unkommentiert genutzt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff sowie eine einleitende Erklärung zu dessen Herkunft wäre aufgrund seiner Dominanz in der Publikation wünschenswert gewesen. Kleinere Formatierungsfehler im Band können Lesende teilweise verwirren. Für eine effektivere wissenschaftliche Arbeit mit der Publikation wären außerdem ein Personenregister sowie ein Literaturverzeichnis am Ende des Bandes von Vorteil gewesen.

Die Benennung dieser Schwachstellen schmälert jedoch nicht den Gesamtwert der Publikation, welcher es trotz allem gelingt, die verknüpfte Geschichte der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung besonders im europäischen Kontext sichtbar werden zu lassen und Anregung für weitere vertiefende und vor allem nötige Forschung zu diesem Thema zu liefern. Für Studierende und Wissenschaftler:innen, die sich mit der Geschlechterforschung, aber auch mit dem Thema Arbeiter:innenbewegung auseinandersetzen, bietet der Band einen spannenden ersten Einblick in den Facettenreichtum dieser interagierenden Bewegungen.

Literatur

Berger, Renate (1982): Malerinnen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Kunstgeschichte als Sozialgeschichte. [2. Auflage 1986] Köln: DuMont Buchverlag.

Gerhard, Ute (2009): Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. [3. Auflage 2018] München: C.H.Beck. doi: 10.17104/9783406615382.

Gerhard, Ute/Pommerenke, Petra/Wischermann, Ulla (Hg.) (2008): Klassikerinnen feministischer Theorie. Grundlagentexte ǀ Band I (1789–1919). Berlin: Ulrike Helmer Verlag.