Open Gender Journal (2023) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Verdrängte Erinnerungen. Die Autobahn und der Nationalsozialismus

Rezension von Angelo Enrico Wiesel


Rezensionen zu Conrad Kunze: Deutschland als Autobahn. Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus.
Bielefeld: transcript 2022
457 Seiten, ISBN: 9783837659436, 49,00 € (Print), 0,00 € (PDF)


Abstract

In dieser Publikation geht Conrad Kunze der Fragestellung nach, wie der Technikdiskurs im Verlauf der deutschen Geschichte Männlichkeitsbilder prägte und nationale Narrative konstruierte. In diesem Zusammenhang ist die Autobahn für eine Reihe negativer Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben verantwortlich. Dazu gehören nicht nur die Marginalisierung des Weiblichen, sondern auch Umweltprobleme und die strukturelle Zergliederung des städtischen Lebens. Auch die geschlechtliche Dimension des Autobahnbaus will der Autor verdeutlichen. Beginnend mit dem Aufstieg der rechten Ideologien im beginnenden 20. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart deckt er die enge Verbindung zwischen Autobahn und Faschismus auf.

Schlagworte: DDR, Faschismus, Konsum, Männlichkeit, Nationalsozialismus

Zitationsvorschlag: Wiesel, Angelo (2023): Verdrängte Erinnerungen. Die Autobahn und der Nationalsozialismus. Conrad Kunze (Hg.): Deutschland als Autobahn. Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus. In: Open Gender Journal 7. doi: 10.17169/ogj.2023.236.

Copyright: Angelo Enrico Wiesel. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2023.236

Veröffentlicht am: 30.06.2023

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Die Autobahn stellt eine der unverrückbaren Konstanten der modernen deutschen Technik dar. Trotz drohenden Klimakollapses weitet sich das Spinnennetz von Autobahnen immer weiter aus. Eine Zone des unbegrenzten Geschwindigkeitsrausches, so wirkt diese Verkehrsader, die Verbindungen zwischen Städten schaffen soll, als Attraktion im europäischen Vergleich. Der technische Fortschritt in Form von Geschwindigkeit und Mobilität versteckt eine ambivalente Geschichte, die in der Publikation aufgearbeitet wird. Conrad Kunze definiert im einleitenden Kapitel zunächst den Unterschied zwischen Autostraße und Autobahn. Zwar gab es vor dem Nationalsozialismus bereits autogerechte Straßen, doch nur die im Dritten Reich geschaffenen Autostraßen erfüllen die Kriterien der heutigen Autobahn (vgl. S. 59).

In diesem Zusammenhang spielt auch die Ideologie des Futurismus in Italien eine wichtige Rolle. Die bereits bekannten frauenfeindlichen Inhalte in dieser Ideologie werden mit der ambivalenten Rolle der Autobahn in der deutschen Geschichte verknüpft. Auch die amerikanische „Girl-Kultur“ erscheint als Bedrohung des vor allem konservativen Mannes (vgl. S. 212) in der Weimarer Republik. Die zunehmend aktive Frau galt als Vorzeichen einer zunehmenden Veränderung von Geschlechterrollen. Die Leistung des Buchs ist darin begründet, dass die antifeministische Ausrichtung des Futurismus mit der Inszenierung von Technikbegeisterung im Deutschland der 1920er Jahre in einen Kontext gesetzt wird. Der Autobahnbau ist das erfolgreichste Propagandaprojekt des Dritten Reiches (vgl. Zeller 2007, 235). Diese Wirkungsmächtigkeit lässt sich bis in die Gegenwart nachweisen.

Die Autobahn und der Nationalsozialismus

In mehr als der Hälfte des Buches werden der Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus in Deutschland behandelt, wobei besonders die Rolle des Autos und der Autobahn in diesem System thematisiert werden. Vor allem eine wirtschaftliche Perspektive prägt die Themen dieses Kapitels. Die politische Geschichte der späten Weimarer Republik nimmt weiten Raum ein, doch auch eine wirtschaftliche Perspektive prägt die einzelnen Kapitel. Dabei stehen deutsche Unternehmen im Fokus, wie BMW, Mercedes und Volkswagen. Als Fazit hält Kunze fest, dass die Verbindung vieler Unternehmen mit dem Nationalsozialismus unzureichend aufgearbeitet ist (vgl. S. 109). Dies deckt sich mit neueren wissenschaftlichen Veröffentlichungen: So haben 71 der 100 größten deutschen Unternehmen ihre Verbindung zum Nationalsozialismus nicht wissenschaftlich aufgearbeitet (vgl. Gallant/Gallant 2022, 17). Ein Blick in die verschiedenen Veröffentlichungen zur ambivalenten Unternehmensgeschichten und Verstrickungen in den Nationalsozialismus zeigen, dass allgemeine Aussagen zur Aufarbeitung könnten schwer getroffen werden können, denn viele deutsche Unternehmen haben ihre Vergangenheit aufgearbeitet. So erschien bereits 1996 eine umfassende Studie zur Verstrickung von Volkswagen im System der Zwangsarbeit (vgl. Mommsen 1996), diese wurde unterstützt durch den Volkswagen-Konzern. Auch wurde sich seitens verschiedener Unternehmen um Wiedergutmachung in Form von Entschädigungszahlungen an Opfer des Nationalsozialismus und durch Förderung von Bildungsarbeit bemüht. Die Aufarbeitung der unternehmenseigenen Vergangenheiten ist insgesamt sehr unterschiedlich gelungen.

Ein ganzes Kapitel ist der Frage gewidmet, ob die Menschen in Deutschland vom Nationalsozialismus verführt wurden. Hitler war nach Auffassung Kunzes kein Unfall der Geschichte, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung beschritt bewusst diesen Weg. Diese Erkenntnis wird von weiten Teilen der Geschichtswissenschaft geteilt. Hitler war eine Projektionsfläche bereits vorhandener gesellschaftlicher Strömungen, die ein Faktor seines Aufstiegs darstellten (vgl. Görtemaker 2019). Die Faktoren für die Machtübernahme der Nationalsozialisten können in der Gesamtbetrachtung unterschiedlich gewertet werden. Die Publikation sieht insbesondere das linke Spektrum der deutschen Politik in der Verantwortung. Es versagte bei der Verhinderung des Nationalsozialismus, wobei Möglichkeiten dazu bis zum Vollzug der Machtergreifung durchaus bestanden hätten. Jedoch ließ sich auch die linke Bewegung in eine Konformität zwingen.

Nach Ende dieses Kapitels wird thematisch eine Verknüpfung zwischen dem Nationalsozialismus und der Autobahn hergestellt. Besonders wird betont, dass die Autobahn nur durch einen exklusiven Kreis genutzt werden konnte. Denn nur für einen kleinen Bevölkerungsteil war ein Auto finanzierbar. Doch das Versprechen ‚Autos für alle‘ ließ auch Zweifelnde stillhalten. Die Autobahn repräsentierte auch das Männlichkeitsbild des Nationalsozialismus. So sei besonders die Männlichkeit und körperliche Stärke der Arbeiter im Fokus der nationalsozialistischen Propaganda gerückt wurden. Im größeren Kontext verkörperte die Autobahn die Idealvorstellung der Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus. Der Mann als aktiver Arbeiter nahm in dieser Vorstellung eine besondere Rolle ein.

Durch gezielte Förderung des motorisierten Rennsports ereilte weite Teile der deutschen Bevölkerung ein Geschwindigkeitsrausch (vgl. S. 215). In der Gesamtbetrachtung muss der Themenkomplex Autobahnbau im Dritten Reich auch in den größeren Dimensionen der Propaganda gesehen werden. In der Gigantomanie des Nationalsozialismus musste alles mit Vergleichen zur antiken Geschichte übertroffen werden: „Die Reichsautobahn muss wie eine chinesische Mauer, die Akropolis der Athener, wie die Pyramiden Ägyptens ein Turm im Weichbild der Weltgeschichte werden“ (Schütz/Gruber 1996, 94).

Die Frauen seien im nationalsozialistischen Deutschland wie bereits im Futurismus an den Rand gedrängt worden, dennoch waren auch Frauen, immerhin die Hälfte der Bevölkerung, verantwortlich für die Ermöglichung der Diktatur (Koonz 1994, 3). Innerhalb der Geschlechterforschung wurde die weibliche Dimension des Nationalsozialismus in den vergangenen Jahrzehnten mit unterschiedlichen Schwerpunkten erforscht, die Varianz reichte dabei von der Mutterrolle bis zum Widerstand gegen das System. Die Frauenrollen waren in der gesamten Zeit des Nationalsozialismus einem Wandel unterworfen, in besonderem Maße in der Zeit nach Kriegsausbruch. Der Rollenwandel spiegelt sich auch in der Forschung zur Mittäterschaft von Frauen, über die ein Diskurs erstmals in den 1980er Jahren geführt wurde. In geringerem Umfang konnten auch Frauen, die sich in die Vorstellungen des nationalsozialistischen Systems einfügten, vom Nationalsozialismus profitieren (vgl. Krauss 2008, 14).

Der nationalsozialistische Staat war männlich dominiert, es gab aber auch für Frauen Betätigungsfelder. So ist es gerade der Charakter inoffizieller Positionen, der im Einzelfall auch Frauen in Berührung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus brachte (vgl. Lower 2014, 86). Allerdings wird eine bloße Einteilung in Täterinnen und Opfer der Vielfalt an Rollen und Handlungsmöglichkeiten von Frauen im Nationalsozialismus nicht gerecht. Letztendlich muss der nationalsozialistische Staat auch als ein Verwalter von Humanressourcen gesehen. Die Frau ist in diesem Kontext nicht nur die arbeitende Frau, sondern der Staat verwaltet die Frau, wo sie gebraucht wurde. Dazu gehören alle gesellschaftliche Ebenen (Pantelmann 2019, 194). Dementsprechend unterschiedlich waren auch die Rollen von Frauen im Nationalsozialismus. In Kunzes ausführlichem Kapitel zur Männlichkeit kommt die weibliche Dimension gerade durch ihre Abwesenheit im Diskurs zum Ausdruck, die weibliche Rolle im System des Nationalsozialismus wird vernachlässigt.

Im letzten Drittel des Buchteils, der den Nationalsozialismus zum Thema hat, betritt der Autor weitestgehend wissenschaftliches Neuland. Er bringt die Autobahn mit dem Holocaust in Verbindung und beschreibt den Straßenbau im Sinne einer „Vernichtung durch Arbeit“. Kunze nennt die Zahl von 149.000 getöteten Menschen allein beim Bau der Autobahn durch Ostpolen und der Ukraine (vgl. S. 262). Denn nicht nur in Deutschland wurde die Autobahn nach der Konsolidierung des Nationalsozialismus durch Zwangsarbeit gebaut. Damit sind viele der heutigen Autobahnen in Europa das Erbe des Nationalsozialismus. Gewalt war in diesem System evident. Dies betrifft vor allem den in der Öffentlichkeit kaum bekannten „Holocaust durch Kugeln“, der mit Beispielen beschreiben wird. Einsatztrupps ermordeten im Hinterland der militärischen Front die Zivilbevölkerung. Erinnerungskulturell leistet dieser Abschnitt wichtige Arbeit, denn in der Erinnerung an die Verbrechen im Dritten Reich ist das Bild besonders durch die industrielle Vernichtung in den Gaskammern geprägt. Der Autobahnbau kann also – als Fazit des Kapitels – nicht als unpolitisch bezeichnet werden.

Die Reihe der Kapitel zum Nationalsozialismus schließt mit der Frage, ob Deutschland den Krieg wegen der Autobahn verlor. Die gigantischen Bauprojekte und der Fokus auf Straßenbau seien wichtige Gründe (vgl. S. 278). In der Gesamtbetrachtung sind die Ursachen für die Niederlage des Nationalsozialismus allerdings vielfältig. So hatte am Sieg der Alliierten deren wirtschaftliches Potential große Bedeutung. Und auch die flexibleren Entscheidungsprozesse spielen im Vergleich zu den Systemen des Totalitarismus eine Rolle. So konnten die demokratischen Systeme trotz ideologischer Differenzen mit der kommunistischen Sowjetunion zusammenarbeiten und ihre Kräfte bündeln. Doch ist die in der Publikation aufgestellte These zumindest im größeren Kontext beachtenswert. Der große Abschnitt zum Nationalsozialismus ist insbesondere durch Politik- und Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik geprägt. Dabei wird auch bekanntes Wissen wiederholt. Insgesamt dient dieses Kapitel dazu, alle Lesenden auf einen Wissensstand zu bringen, was für die späteren Verknüpfungen und deren Verständnis unabdingbar ist.

Entnazifizierung und deutsche Teilung

In den folgenden Kapiteln thematisiert Kunze die deutsche Teilung in der Nachkriegszeit. Im Vergleich der politischen Systeme wird der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eine bessere Entnazifizierung bescheinigt. Vor allem in der frühen Bundesrepublik Deutschland (BRD) seien viele personelle Kontinuitäten erkennbar gewesen (vgl. S. 288f.). In der Gesamtbetrachtung kann der Prozess der Entnazifizierung als gescheitert angesehen werden, selbst wenn es für die unterschiedlichen Besatzungszonen verschiedene Auswirkungen gibt. Als Indiz für die insgesamt schlechte deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit wertet der Autor das Wirken des Rechtsradikalismus in den 1990er Jahren im wiedervereinigten Deutschland.

In zwei größeren Einzelkapiteln wird der Autobahnbau in der BRD und DDR verglichen. Für die BRD lassen sich im folgenden Kapitel mehrere Phasen der Verkehrsgestaltung feststellen. Das Auto wurde zum wichtigsten Fortbewegungsmittel, alle anderen Verkehrsteilnehmenden wurden durch das Auto dominiert. Der schon im Nationalsozialismus gepflegte Geschwindigkeitsrausch wurde in der BRD durch die Aufhebung vieler Geschwindigkeitsbeschränkungen forciert. Durch die Autolobby wurden in den 1950er Jahren Bestrebungen von Geschwindigkeitslimits mit Verweis auf den Nationalsozialismus abgelehnt. Rasen sei vielmehr Ausdruck von Freiheit, die es im Dritten Reich nicht gegeben habe (vgl. S. 317).

Die Baubehörden in der BRD bemühten sich trotz personeller Kontinuitäten zumindest nach außen hin um Abgrenzung gegenüber der Vergangenheit. So wurde die im Nationalsozialismus gepflegte Bepflanzungsideologie bei der Begrünung von Mittelstreifen der Autobahn in der BRD in grünen Pragmatismus umgedeutet (vgl. Zeller 2002, 253). Das Versprechen des eigenen Autos für alle wurde erst in der BRD zu einer Wirklichkeit, welche sich vor allem im zunehmenden Konsum bemerkbar machte. Der Autor bezieht sich damit auf populäre Bilder aus der Zeit des Wirtschaftswunders: Kaum ein Bild repräsentiert das Wirtschaftswunder Westdeutschlands besser als das Auto. Eine Konsequenz war die Rückbesinnung auf das Privatleben. Nach dem fehlgeschlagenen Versuch des Griffs nach der Weltmacht durch den Nationalsozialismus erfolgte vielfach eine Besinnung auf die Heimat. Ausdruck dieses Gefühls sind auch ‚Heimatfilme‘ der 1950er Jahre. Die Diktatur spielte nachweislich in der Erinnerung der Bevölkerungsmehrheit eine untergeordnete Rolle. Vielmehr war die Erinnerung durch Fragmentierung geprägt. Die Autobahn nimmt in diesem Kontext eine positiv besetzte Sonderrolle ein (vgl. S. 310). Trotz der in der deutschen Bevölkerung bekannten Verbrechen des Nationalsozialismus wurde die Wahrnehmung der Autobahn von der übrigen Erinnerung an die jüngere Vergangenheit abgekoppelt. Es konnte die Empfindung entstehen, dass nicht alles im Dritten Reich negativ war.

Auch die DDR erbte Teile des Autobahnnetzes der ehemaligen Reichsautobahn. In den Anfangsjahren der frühen DDR stand die Bewältigung der Kriegsfolgen im Vordergrund, wozu auch umfangreiche Reparationsleistungen an die Sowjetunion gehörten. Die Forschung bestätigt, dass es im Baugewerbe der DDR eine Verbindung zwischen Straßenbau und Grenzbau gab. So kann die Mauer in diesem Zusammenhang auch wie eine vertikale Autobahn betrachtet werden (vgl. Doßmann 2003, 227). In diesem Fall verband das Bauprojekt keine Städte, sondern trennte räumlich zwei unterschiedliche politische Systeme. Gedankliche Altlasten der totalitären Systeme, wie sozialer Zwang und ein Überwachungsapparat, lassen sich in der allgemeinen Betrachtung aus dieser Perspektive auch in der DDR nachweisen. So kann die Mauer als ultimatives Symbol der Unfreiheit der DDR-Bevölkerung interpretiert werden.

Kunzes Schilderungen zur DDR sind durch das Spannungsverhältnis zwischen deren eigener (Mangel-)Wirtschaft und dem Konsumismus der BRD geprägt. Eng damit verknüpft ist auch das eigene Auto als Versprechen für alle, das analog zu Westdeutschland vor allem als ein Angebot an die männliche Bevölkerung bewertet werden kann. Zwar bescheinigt die Forschung dem Sozialismus eine größere Geschlechtergerechtigkeit. Doch ausgerechnet die Fixierung der DDR auf das Auto stelle einen Widerspruch dazu dar, da die tiefere Logik des Automobilismus nicht verstanden wurde (vgl. S. 353). So ist das Auto als Objekt mehr als nur ein Konsumgut. Es verkörpert Männlichkeitsvorstellungen und auch sozialen Status. Dies steht damit in Widerspruch zu den Werten, die durch die DDR verkörpert werden sollten. Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit war die DDR zumindest um einen Nachteilsausgleich bemüht wofür der Autor den gut ausgebauten Nahverkehrssektor und das Schienennetz anführt. Er schließt mit der Feststellung, dass die DDR am Ende ihrer Existenz als Staat eine ähnliche Automobilisierung vorweisen konnte wie die BRD.

Postsozialismus und giftiges Erbe

Nach Ende der DDR fand eine Angleichung Ostdeutschlands an die BRD statt. Bekanntlich erfüllten sich viele der anfangs gehegten Hoffnungen sowie die von der westdeutschen Politik versprochenen „blühenden Landschaften“ nicht. Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Abstieg waren für viele Menschen aus der ehemaligen DDR die Folge. Im Kapitel zum Postsozialismus wird diese Stimmung im wiedervereinigten Deutschland aufgegriffen. Im Vergleich der beiden Landesteile sind Differenzen auffallend, die sich auch in der politischen Partizipation zeigen: Parteiliche Präferenzen sind in Ostdeutschland anders ausgeprägt, was sich auch durch den stärken Zuspruch zum rechten Parteienspektrum zeigt.

Der Ausbau der Autobahn in Gesamtdeutschland wird nach Kunzes These auch dazu genutzt, diese Unterschiede abzubauen. Das Schienennetz in Ostdeutschland dagegen wurde zurückgebaut und der öffentliche Nahverkehr vernachlässigt. Aus der Geschlechterperspektive hatte dies negative Auswirkungen auf Teile der Gesellschaft. Vor allem Frauen waren in ihrer Autonomie durch das geringere Angebot des öffentlichen Nahverkehrs eingeschränkt, auch weil weniger Frauen ein eigenes Auto besaßen. Daher waren besonders Frauen vom wirtschaftlichen und persönlichen Abschwung in der Zeit des Postsozialismus betroffen (vgl. S. 369).

Weiterführend wird im Kapitel „Giftiges Erbe“ ein Bogen zu rechter Gewalt nach der Wiedervereinigung geschlagen. Die Enttäuschung in Teilen der deutschen Bevölkerung schlug in einigen Fällen in Wut um, bei Gewaltausschreitungen gab es vor allem in Ostdeutschland hässliche Szenen. Unabhängig von politischen Systemen hatte sich eine rechte Ideologie in den Köpfen einiger Menschen konserviert. Diese Bewegungen im konservativen Spektrum müssen auch im Kontext politischer Machtverschiebungen in Europa und der Welt gesehen werden. Nach Ende des Ost-West-Konflikts erfüllten sich viele Erwartungen der politischen Rechten nicht. Die Abgabe staatlicher Befugnisse an die entstehenden europäischen Institutionen und die Verneinung einer militärischen Großmachtrolle Deutschlands sorgten im konservativen Lager für eine Radikalisierung (vgl. Finkbeiner 2020, 311).

In den beiden Abschlusskapiteln wird ein Ausblick auf die Zukunft gegeben. Die Autobahn ist nach Ansicht von weiten Teilen der Gesellschaft ein unkritisches Denkmal, das Auto ein politisiertes Objekt. Dieses wird auch von rechten Gruppierungen vereinnahmt zur Abgrenzung gegen linke Gruppierungen und die ökologische Bewegung (vgl. S. 395). Der Aufstieg rechter Ideologie wird durch die Wahlerfolge rechter Politik weltweit deutlich. Diese „Neue Rechte“ hat vor allem das Internet als Agitationsmedium des politischen Wettkampfes entdeckt.

Thematisch verbunden spielen gegen Ende des Buches die Problematik des Autoverkehrs und der Klimawandel eine Rolle. Das Elektroauto stellt nach Meinung des Autors in diesem Kontext kein nachhaltiges Element zur Verkehrswende und zur Verhinderung der Klimakatastrophe dar. Er stützt sich dabei auf die These eines technologischen Rassismus aus der Kolonialzeit. Demnach erlangte die westliche Welt durch den technischen Fortschritt die Kontrolle über einen Großteil der restlichen Welt. Mit einer Ungleichheit wirtschaftlicher Macht setzt sich dieses ungleiche Verhältnis heute auf einer anderen Ebene fort: Nach Angaben der WHO sterben weltweit jährlich 1,25 Millionen Menschen im Straßenverkehr. Im globalen Süden ist die Wahrscheinlichkeit, durch ein Auto umzukommen, mehr als tausend Mal höher als in Europa (vgl. Uekötter 2020, 524). Auch werden in den dortigen armen Ländern die Rohstoffe für die Elektromobilität unter ambivalenten Bedingungen gefördert. Der Abbau in der Bergbauindustrie in Afrika findet nicht nur unter der Missachtung von Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften statt, Umweltverschmutzung und Kinderarbeit sind weitere Folgen (vgl. Kalt 2020, 317). Die Publikation schließt aber auch mit einem positiven Ausblick. Zumindest seien erste Anzeichen eines gesamtgesellschaftlichen Umdenkens zu spüren, Proteste gegen die autogerechte Stadt und für eine Mobilitätswende sind im öffentlichen Diskurs zunehmend wahrnehmbar (vgl. S. 420).

Fazit

Conrad Kunze bietet mit der vorliegenden Publikation eine gänzlich neue Sichtweise auf die Autobahn und den Automobilismus an. Die Autobahn als thematisches Bindeglied durch verschiedene historische Abschnitte hindurch ist ein innovatives Untersuchungsdesign, auch weil damit eine Vielzahl für die Gegenwart relevanter Themen verknüpft wird, wie etwa Klimawandel, rechte Ideologie, Verkehrswende und Diversität. Die Publikation wird insgesamt den eigenen Ansprüchen gerecht: In einem großen Bogen wird die Autobahn aus geschichtlicher und soziologischer Perspektive betrachtet. Ein Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Wirkungsschemata rechter Ideologien. Aus dem Kontext der Geschlechterforschung kommt die Dimension des Weiblichen allerdings etwas zu kurz. Sie erschöpft sich vor allem in der geschilderten Abwesenheit weiblicher Akteur:innen. Doch ergeben sich aus einer Forschungsperspektive viele nützliche Ansätze. So könnte das Untersuchungsdesign der Publikation mit den bereits vorhandenen Forschungen zur Geschlechtergeschichte des Dritten Reichs kombiniert und diese Veröffentlichung zum Anlass genommen werden, die vorhandenen Leerstellen zu füllen.

Die in der Publikation besprochenen Themen sind hochaktuell. Ein besseres Verständnis und Lösungsansätze für diese Problemfelder kann es nur geben, wenn Aufklärung geleistet wird. Dazu leistetet die Publikation einen außerordentlichen Beitrag. Das politische Anliegen wird deutlich, die Aussagen sind aber jeweils wissenschaftlich mit Quellen belegt. Positiv hervorzuheben ist, dass die Publikation in Open-Access zugänglich ist. Die Gliederung der Kapitel unterstützt den Leseprozess, teilweise wirken die Kapitel allerdings etwas zwangslos gereiht. Durch die Verwendung einer angemessenen sprachlichen Qualität bietet sich dieses Buch vor allem für ein breites Publikum abseits der Fachwissenschaften an. Für ein wissenschaftliches Publikum eignet es sich hauptsächlich zum vertieften weiteren Quellenstudium.

Literatur

Doßmann, Axel (2003): Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR. Essen: Klartext-Verlag.

Finkbeiner, Florian (2020): Nationale Hoffnung und konservative Enttäuschung. Zum Wandel des konservativen Nationenverständnisses nach der deutschen Wiedervereinigung. Bielefeld: Transcript Verlag.

Gallant, Zachery/Gallant, Katharina F. (2022): Brauner Boden. Ein jüdischer Blick auf die deutsche Aufarbeitung der NS-Zeit. Frankfurt am Main: Westend Academics.

Görtemaker, Heike (2019): Für Hitlers „Inner Circle“ war der Attentatsversuch ein Schock. Interview von Oliver das Gupta. In: Süddeutsche Zeitung, 20. 7. 2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/hitler-stauffenberg-1.4532486 (abgerufen am 6. 6. 2023)

Kalt, Tobias (2020): E-Mobilität auf Kosten anderer? Zur Externalisierung sozial-ökologischer Kosten entlang globaler Wertschöpfungsketten. In: Brunnengräber, Achim/Haas, Tobias (Hg.): Baustelle Elektromobilität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Transformation der (Auto-)Mobilität. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 307–328.

Koonz, Claudia (1994): Mütter im Vaterland. Frauen im Dritten Reich. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.

Krauss, Marita (2008): Sie waren dabei. Mitläuferinnen, Nutznießerinnen, Täterinnen im Nationalsozialismus. Göttingen: Wallenstein Verlag.

Lower, Wendy (2014): Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust. München: Carl Hanser Verlag.

Mommsen, Hans (1996): Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Berlin: Econ Verlag.

Pantelmann, Heike (2019): Die Fabrikation der „deutschen Frau“ als Humanressource im Nationalsozialismus. Berlin: Freie Universität Berlin.

Schütz, Erhard/Gruber, Eckhard (1996): Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941. Berlin: Ch. Links Verlag.

Uekötter, Frank (2020): Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Zeller, Thomas (2002): Straße, Bahn, Panorama. Frankfurt am Main: Campus-Verlag.

Zeller, Thomas (2007): Driving Germany. The Landscape of the German Autobahn 1930-1970. New York: Berghahn Books. doi: https://doi.org/10.1515/9780857452269