Open Gender Journal (2023) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Problem und Lösung zugleich? Universalismus und Menschenrechte im Kontext globaler autoritärer Angriffe auf geschlechterbezogene Rechte

Rezension von Jonas Lang


Rezensionen zu Alexandra Scheele, Julia Roth, Heidemarie Winkel (Hg.): Global Contestations of Gender Rights.
Bielefeld: Transcript 2022
354 Seiten, ISBN: 978-3-8376-6069-2, 40,00 € (Print), 0,00€ (PDF)


Abstract

Der Sammelband „Global Contestations of Gender Rights“ versammelt interdisziplinäre Perspektiven auf die weltweite autoritäre Anfechtung geschlechtsbezogener Rechte im globalen Kontext. Der Sammelband weist dabei drei Stärken auf: Erstens löst er den eigenen Anspruch auf Interdisziplinarität, Intersektionalität und Globalität vollumfänglich ein. Zweitens bietet er einen qualifizierten Überblick über die empirischen und theoretischen Hintergründe und die Entwicklung des globalen autoritären Backlashes. Drittens entwickelt sich über verschiedene Beiträge hinweg eine Diskussion, welche die ambivalente Stellung von Menschenrechten und dem ihnen zugrundeliegenden universalistischen Anspruch im Kontext der globalen Anfechtung geschlechterbezogener Rechte untersucht.

Schlagworte: Frauenrechte, Postkoloniale Theorie, Universalismus

Zitationsvorschlag: Lang, Jonas (2023): Problem und Lösung zugleich? Universalismus und Menschenrechte im Kontext globaler autoritärer Angriffe auf geschlechterbezogene Rechte. Rezension zu Alexandra Scheele, Julia Roth, Heidemarie Winkel (Hg.) (2022): Global Contestations of Gender Rights. In: Open Gender Journal 7. doi: 10.17169/ogj.2023.256.

Copyright: Jonas Lang. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2023.256

Veröffentlicht am: 20.12.2023

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Der von Alexandra Scheele, Julia Roth und Heidemarie Winkel herausgegebene Sammelband „Global Contestation of Gender Rights“ geht auf eine Konferenz der Arbeitsgruppe „Global Contestation of Women’s and Gender Rights“ des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld zurück. Aus Titel und Entstehungskontext des Bandes lassen sich schon vor der Lektüre einige Erwartungen ableiten. Denn in der Tat geht es in dem englischsprachigen Sammelband darum, eine globale Perspektive auf die um sich greifenden autoritären Backlashes gegenüber geschlechterbezogenen Rechten zu entwickeln. Eine globale Perspektive meint dabei im Sinne der Globalisierungsforschung nicht nur die Einbeziehung einzelner nationaler Kontexte, um kumulativ zu besseren Ergebnissen zu gelangen – länderbezogene Fallstudien und -beispiele liefert der Sammelband trotzdem zur Genüge –, sondern auch den Anspruch einer genuin holistisch-globalen Herangehensweise. So viel sei vorweggeschickt, das gelingt in dem Sammelband auf ganzer Linie.

Dabei tragen die einzelnen Beiträge allesamt inhaltlich einen Teil zum kaleidoskopischen Blick in diesen vielfältigen Forschungsbereich bei, die Zuteilung in die vier Teilbereiche wirkt jedoch teils willkürlich. Es lohnt sich deshalb, die einzelnen Artikel in anderen Reihenfolgen zu lesen, um inhaltliche Linien und Zusammenhänge kohärenter zu verfolgen. Die methodische und thematische Vielfalt nötigt hier zu einer kursorischen Besprechung des Bandes, in der einige Fallstudien zugunsten der Ausweisung von overarching themes außen vor bleiben.

Annäherungen an die globale Kontestation

Eines dieser übergreifenden Themen ist die Problemdiagnose von globalen Angriffen auf geschlechterbezogene Rechte sowie die historische, globale und einführende Plausibilisierung dieser These. Eingeleitet wird der Band durch ein Kapitel der Herausgeberinnen, in welchem sie im Wesentlichen den oben genannten Anspruch auf eine wirklich globale und interdisziplinäre Herangehensweise anzeigen und einen Überblick über den Sammelband liefern. Im ebenfalls von den Herausgeberinnen verfassten methodischen Kapitel zum Analytical Framing, welches sich als erweiterte Einführung verstehen lässt, schlagen die Autorinnen anhand der drei Dimensionen von citizenship, division of labor und religion ein Analyseraster für die Untersuchung der globalen Kontestation geschlechterbezogener Rechte vor. Die erste Dimension umfasst dabei vor allem jene Angriffe auf diese Rechte, die durch klassisch politische Akteure, also Staaten, Regierungen und oberste Gerichte, verübt werden, wenn auch ergänzt durch die Unterdimension der Staatsangehörigkeit und Identität einzelner Subjekte. Division of labor nimmt die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsapparate kapitalistischen Wirtschaftens und deren regressive Tendenzen in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit in den Blick. Mit religion wird die dritte Analysedimension als Verhandlungshintergrund von hegemonic beliefs, also gesellschaftlich vorherrschenden Vorstellungen über Normalität, Moral und Common Sense angezeigt. Alle drei Dimensionen werden in ihrer globalen Komplexität dargestellt.

Einen Fokus auf diese Globalität bietet Manuela Boatcă. Sie verwebt in einer global-sozialen Geschichte die Achsen von Kapitalismus, Sklaverei und Kolonialität, Rassismus, (erzwungener) Mobilität und der Ausbeutung weiblicher Körper zu einem notwendigerweise komplexen Bild: ein Beitrag, welcher durch die analytisch scharfe Wiedergabe dieser verschalteten Machtverhältnisse heraussticht. Judith Roth und Birgit Sauer liefern in ihrem äußerst gelungenen Artikel eine empirisch gesättigte Darstellung des aktuellen Backlashes, dessen Diskurslogiken sie in mehrere Patterns einordnen, welche sich durch den Widerstand gegen anti-koloniale Befreiungskämpfe ebenso speisen wie durch den Kampf gegen reproductive rights oder den Hass auf progressive, als großstädtisch wahrgenommene intellektuelle Eliten. Für eine vereinheitlichte Theorie dieser Kontestationen liefert der Beitrag erste Bausteine und eignet sich so gut als einführender Text in die Debatte.

Universalismus und (Menschen-)Recht

Das zweite overarching theme handelt vor dem Hintergrund der global contestation of gender rights vor allem von Fragen des Rechts selbst und den Grundannahmen, die zur Idee universeller Menschenrechte gehören. Elisabeth Holzleithner liefert in ihrem Beitrag Perspektiven aus der Rechtsphilosophie, und zwar auf den sozialen, rechtlichen und politischen Backlash gegen sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung in den USA, welche ein Paradebeispiel für die Verschaltung von sozialer Kontestation und politisch-rechtlichen Institutionen abgeben: Gruppen wie die Proud Boys, die durch die Verbindung von autoritären politischen Vorstellungen und regressiven Bildern von Sexualität und Geschlechtlichkeit auffallen, sehen sich durch die von der Autorin rekonstruierte Rechtsprechung auch in der Judikative repräsentiert. Ausblickartig stellt sie die Ambivalenz von Menschenrechten und die notwendig strategische Bezugnahme auf diese vor. Vertiefend widmet sich Noya Rimalt der spezifischen Rechtsprechung zu Schwangerschaftsabbrüchen innerhalb der USA und rekonstruiert die juristischen Kämpfe um dieses Thema. Die bereits von Holzleithner ausgewiesene Ambivalenz zeichnet Susanne Baer in ihrem Aufsatz nach; „human rights […] matter in various dimensions“ (S. 122), als normative Ordnungen, mit all ihren subjektivierenden Mechanismen, als umkämpfte und unerfüllte Realitäten im internationalen politischen Raum und als moralische Leitideen, die sich in Diskursen ebenso wie in Rechtsprechung niederschlagen.

Der subjektivierende Charakter dieser Rechtsnormen wird in gleich zwei Beiträgen als zentraler Ausgangspunkt aufgegriffen. Ligia Fabris, Holly Patch und Karsten Schubert widmen sich anhand queerer und Trans-Identitäten einer Menschenrechtskritik unter diesen Vorzeichen. Diese Identitäten unterlaufen nämlich nicht nur den naturalisierenden und subjektivierenden Charakter des modernen Rechts selbst, vielmehr zwingen sie Rechtsstrukturen und Gesellschaften durch ihre bloße Existenz eine Auseinandersetzung mit den eigenen medizinisch-biologistischen Verbindungen innerhalb des Rechts auf und unterlaufen performativ dessen identifizierenden und subjektivierenden Machtmechanismus. Im Vergleich dazu verweist Suad Joseph weniger auf die zurichtende Wirkung von Menschenrecht auf die einzelnen Subjekte und mehr auf die ihnen eigene problematisch subjektbezogene Struktur und die Gefahren, welche daraus vor allem für weibliche Subjekte, individuelle Frauen, erwachsen – vornehmlich die rechtliche Blindheit gegenüber alternativen sozialen Organisations- und Solidaritätsformen und die Reduktion von agency auf individuelle weibliche Akteurinnen. Die diese Beiträge grundierenden Fragen nach Universalismus greifen Ina Kerner und José-Manuel Barreto auf und verorten die Kritik des Universalismus zwischen den Dimensionen Feminismus und Kolonialismus. Eine vollkommene Verabschiedung universeller Ideen, wie es diesen Theorietraditionen aus liberaler Schicht teils vorgeworfen wird, halten beide Autor*innen für wenig sinnvoll. Im Gegenteil plädieren sie dafür, universelle Ideen dadurch von ihren kolonialen und männlichen Partikularitäten zu befreien, dass alternative Konzepte von Menschenrechten, Vernunft und Freiheit außerhalb des männlich-weiß-europäischen Kanons gefunden werden.

Religiöse und lokale Partikularitäten

Der dritte Block umfasst vor allem Einzeluntersuchungen, die sich im komplexen Beziehungsgeflecht von Globalität, Kolonialismus, Konflikt, Politik, Menschenrechten, Geschlechtlichkeit, Religion und sozialen Normen beziehungsweise Institutionen verorten lassen. Ohne näher auf all diese Beiträge einzugehen, kann die thematische Vielfalt und das kritische Potential nur nochmals hervorgehoben werden. Als reine Informationsquelle zur spezifischen Situation in Chile, Pakistan, Nigeria, Ungarn, Deutschland und Marokko eignen sich die Beiträge ebenso wie als vergleichende Verhandlung der Frage nach Religion und Geschlechtlichkeit, wobei mehrere nationale Kontexte und religiöse Einstellungen in den Blick geraten. Die diversen Perspektiven, welche von Rechtswissenschaft über Methodenreflexionen der Politikwissenschaft, Konfliktforschung und Religionswissenschaft bis hin zu neuerer und neuester Geschichte reichen, lassen sich jedoch schlicht nicht sinnvoll zusammenfassen.

Fazit

Der Sammelband hält nicht nur viele Perspektiven und Themen bereit, er bietet auch mehrere Zugänge, insoweit unterschiedliche Erkenntnisinteressen bedient werden – von einführenden Überblicksdarstellungen, welche dennoch die dem Thema angemessene Komplexität nicht vermissen lassen, bis hin zu thematisch und methodisch spezifischen Einzeluntersuchungen.

Eine der wichtigsten übergreifenden Thematiken ist die auf mehreren Ebenen ambivalente Natur der Menschenrechte. Einerseits sind diese als diskursiver Berufungsgrund und Leitidee unabdingbar, andererseits sind sie stets in Debatten und die politische Realität ihrer eigenen Nichterfüllung verstrickt. Zudem wird in mehreren Beiträgen die direkt destruktive Wirkung aufgezeigt, welche Menschenrechte vor allem auf weibliche Subjekte, ihre Erfahrungs-, Emotions- und Organisationswelten sowie ihre Identität entfalten können. Die kritische Auseinandersetzung mit der ambivalenten Struktur von (Menschen-)Rechten selbst kreist dabei durch alle Aufsätze zu diesem Thema hindurch um folgende Frage: Wie lassen sich die Leitideen der Moderne von Freiheit, Emanzipation, Aufklärung und vernünftig gewordenen Menschenrechten in ihrer Ambivalenz, Partikularität und Gewalttätigkeit gerade im Spannungsbereich von Kolonialismus und Geschlecht analysieren, ohne dass dabei die normative Kraft dieser Ideen als reine faktische Unzulänglichkeit abgeschrieben werden muss? In der Verbindung dieser Beiträge weist der Themenblock über die Grenzen des Bandes und der Gender Studies hinaus und hält auch für Rechts- und Sozialphilosoph*innen oder die politische Theorie einige empirisch geschulte Weiterentwicklungen bereit.

Die kursorische Darstellung des Bandes zeigt einerseits die Vielseitigkeit der angesprochenen Themen, Herangehensweisen, Methoden und Disziplinen. Andererseits entspringt sie der Schwierigkeit einer kritischen Besprechung, angesichts eben dieser Vielseitigkeit. Die meisten Kapitel sind gut lesbar, die Themensetzung abwechslungsreich und die Kapitellängen angenehm, was den Band durch und durch bereichernd macht. Gleichzeitig lässt die thematische Vielseitigkeit manche Beiträge zu, die als reine Fachinterventionen verstanden werden können und interessierten Laien sowie Forschenden aus benachbarten Feldern bereits trocken erscheinen dürften.