Open Gender Journal (2020) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Isabel Meusen
Rezensionen zu Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal:
„Arbeitsscheu und moralisch verkommen“
Verfolgung von Frauen als „Asoziale“ im Nationalsozialismus
Wien, Berlin: mandelbaum 2019.
378 Seiten, ISBN 978-3-85476-596-7, € 29,00
Gegenstand des Buches ist die Geschichte der Verfolgung von als ‚asozial‘ bezeichneten Frauen während des Nationalsozialismus in und aus Österreich. Neben einer ausführlichen Diskussion des Begriffs ‚asozial“ und den verfolgungsrelevanten behördlichen Gesetzen und Verordnungen enthält das Buch diverse Fallstudien und Einzelschicksale, anhand derer die Lebens- und Leidensbedingungen der Frauen vor, während und nach dem Konzentrationslager skizziert werden. Der Schwerpunkt des Buches liegt in der Sichtbarmachung systematischer Verfolgung sowie der Ursachenforschung und Begründung von Unterschieden im behördlichen Verhalten. Zuletzt widmen sich die Autor_innen der fortgesetzten Diskriminierung und Stigmatisierung von als ‚asozial‘ verfolgten Frauen im Österreich der Nachkriegszeit.
Schlagworte: Diskriminierung, Nationalsozialismus, Sexualität, Stigmatisierung
Zitationsvorschlag: Meusen, Isabel (2020): Stigmatisierung und Verfolgung ‚asozialer‘ Frauen im nationalsozialistischen Österreich. Rezension zu: Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal (2019): ‚Arbeitsscheu und moralisch verkommen‘. Verfolgung von Frauen als 'Asoziale' im Nationalsozialismus. In: Open Gender Journal (2020). doi: 10.17169/ogj.2020.151.
Copyright: Isabel Meusen. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2020.151
Veröffentlicht am: 08.10.2020
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Erst in den 1980er Jahren begannen Forscher_innen, sich mit dem Thema ‚Asozialität‘ und den als ‚asozial‘ verfolgten Frauen und Männern in der Zeit des Nationalsozialismus zu befassen. Erstmals wurden gesetzliche Grundlagen für die Verfolgung (Ayaß 1998), die (Über-)Lebensbedingungen im KZ (Schikorra 2001) sowie sexualisierte Gewalt gegen ‚asoziale‘ Frauen im KZ (Amesberger/Auer/Halbmayr 2010) herausgearbeitet. Speziell für Österreich interessant waren in diesem Zusammenhang die Forschungsarbeiten über Zwangssterilisierung in Wien (Spring 1999; 2007; 2009) und die NS-Gesundheitspolitik in Wien (Czech 2003; 2007).
Die Autor_innen des vorliegenden Bandes erweitern den bereits vorhandenen Forschungsstand im Hinblick auf die Verfolgungsabläufe, das heißt, wie Behörden mit- und gegeneinander arbeiteten, wie Gesetze interpretiert wurden und wie Unterschiede in den Zwangsmaßnahmen gegen als ‚asozial‘ stigmatisierte Frauen zustande kamen. Anhand von Einweisungsunterlagen werden auch die Voraussetzungen und Argumentationsstränge der NS-Behörden für die Sterilisation und KZ-Einweisung sowie die Einweisung in „psychiatrische Anstalten, Arbeitsanstalten, Arbeitserziehungslager und Erziehungsheime“ (S. 14) rekonstruiert. Anhand des Beispiels von Österreich wird somit die Verfolgung ‚asozialer‘ Frauen und Mädchen im Nationalsozialismus analysiert und daran anschließend die fortgesetzten Diskriminierungen und Stigmatisierungen von als ‚asozial‘ verfolgten Frauen im Österreich der Nachkriegszeit erläutert.
Die Autor_innen skizzieren ausführlich die historische Bedeutung und Entwicklung des Begriffs ‚asozial‘ und legen dar, wie sich die Definition während des Nationalsozialismus veränderte. Zum einen wird hier darauf eingegangen, wie das Konzept als Fremdzuschreibung einer Mehrheitsgesellschaft die Unangepasstheit an gesellschaftliche Normen der Leistungsgesellschaft bestraft. Zum anderen wird speziell auf die Sexualisierung eingegangen, die insbesondere Frauen betraf, deren Lebenswandel als ‚volkszersetzend‘ galt: Prostituierte und Homosexuelle. Erbbiologisch wurden Frauen als potenzielle Mütter gesehen und ‚asoziale‘ Frauen demnach als Gefährderinnen der arischen Rasse. „‚Asozialität‘ bei Frauen wurde also primär entlang zweiter Hauptstränge definiert, zum einen anhand ihrer vermeintlichen Sexualität, [...]. Zum anderen waren Vorhaltungen hinsichtlich der ‚Arbeitsmoral‘ häufige Verfolgungsgründe“ (S. 34).
Speziell für Österreich wird danach die gesetzliche Situation nach der Machtübernahme 1938 beschrieben. Das Rassenpolitische Amt erweiterte den Begriff der ‚Asozialität‘ soweit, dass nun „sittenwidriges destruktives Verhalten, widerliche Charaktereigenschaften, [...], größtmögliche Unordnung im häuslichen Leben, [...], ausgesprochene Neigung, ständig mit Mitmenschen und Behörden in Konflikt zu geraten, ohne dass größere Verbrechen begangen werden, absolute Unfähigkeit, die verwahrlosten Kinder zu brauchbaren Menschen zu erziehen“ (S. 40), strafbar und verfolgbar waren. Ausmerzung dieser Eigenschaften aus erbbiologischer Sicht war das Ziel.
Sehr ausführlich stellen die Autor_innen die Einrichtungen dar, die in Österreich mit der Verfolgung ‚asozialer Elemente‘ betraut waren. Hier sind besonders die „Asozialenkommissionen“ zu nennen, von denen die erste Ende 1940 ihren Dienst antrat. Sie waren aus Mitgliedern verschiedener Behörden zusammengesetzt und damit betraut, über alle gemeldeten ‚asozialen Fälle‘ zu entscheiden. Soziale Verwaltungsapparate wie das Gesundheitsamt, das Wohlfahrtsamt und das Arbeitsamt waren hier ebenso vertreten wie die strafrechtliche Seite mit Gestapo und Kriminalpolizei. Ab 1941 war diese Kommission ausschließlich für ‚asoziale‘ Frauen zuständig, nachdem die Gestapo den Verantwortungsbereich ‚asozialer‘ Männer für sich reklamierte. Detailliert wird hier beschrieben, nach welchen Maßstäben Frauen in Erziehungsheime, psychiatrische Anstalten, Arbeitsanstalten und Konzentrationslager eingewiesen wurden. Bezeichnend ist, dass das Hauptkriterium Besserungsfähigkeit beziehungsweise Unverbesserlichkeit des Verhaltens war.
Im Verlauf des Kapitels gehen die Autor_innen ausführlich auf die fortschreitende Verschärfung der Gesetzeslage zur ‚Asozialität‘ ein, die durch immer engere Verzahnung unterschiedlicher Behörden erreicht wurde. Hier treten auch die Unterschiede zutage, die sich in den Einweisungsbegründungen finden und darüber bestimmten, welchen (Anstalts-)Weg die Frauen nahmen. Einzelne österreichische Anstalten und die in ihnen erfolgte Behandlung von Frauen werden ebenso beschrieben wie Projekte des „Rassenpolitischen Amtes“ zur Schaffung von neuen Arbeitsanstalten, da die Zahl der Einweisungen von Frauen die Anzahl der vorhandenen Plätze regelmäßig überstieg. Zu den Maßnahmen, denen die jungen Mädchen und Frauen ausgesetzt waren, gehörte vor allem körperliche Arbeit. So musste zum Beispiel in der Arbeitsanstalt Am Steinhof sieben Tage die Woche je 13 Stunden gearbeitet werden. Körperliche Bestrafungen, Essensentzug und psychische Gewalt waren in allen Einrichtungen an der Tagesordnung, darüber hinaus wurden in einigen Anstalten auch Zwangssterilisationen und Zwangs-Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Akribisch fügen hier die Autor_innen Einzelschicksale zu einem Gesamtbild des Grauens zusammen und belegen anhand von Zeug_innenaussagen und Aktennotizen den Lebensalltag der inhaftierten Frauen.
Obwohl keine genauen Daten vorliegen, konnten die Autor_innen feststellen, dass die Überstellung ‚asozialer‘ Mädchen und Frauen in ein Konzentrationslager nach Ende ihrer Inhaftierung in Arbeitsanstalten und Erziehungsheime gängige Praxis war. Das dritte Kapitel befasst sich daher ausführlich mit als ‚asozial‘ inhaftierten Österreicherinnen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und dem angegliederten Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Anhand zweier Fallgeschichten wird nachgezeichnet, wie Frauen aufgrund der zwei Verfolgungshauptstränge – ‚arbeitsscheu‘ oder sexuelles (Fehl-)Verhalten – ins KZ Ravensbrück kamen und unter welchen Bedingungen sie dort lebten. Daran anschließend wird erläutert, wie das ‚Jugendschutzlager‘/Konzentrationslager Uckermark entstand, wer dort inhaftiert wurde, und welche Haftgründe angegeben wurden. Anders als beim KZ Ravensbrück wurden hier die jungen Frauen größtenteils wegen sexuellen Verhaltens als ‚asozial‘ stigmatisiert und inhaftiert. Die erniedrigende Einweisungsprozedur, die Zwangsarbeit der Jugendlichen und die Lagerbedingungen werden ebenso anhand von Aussagen überlebender Frauen belegt wie die Bestrafungsmaßnahmen durch die Lagerleitung und Aufseher_innen. Fallgeschichten dienen auch hier dazu, den Weg österreichischer ‚asozialer‘ Frauen ins KZ aufzuzeichnen und darzustellen, welche Behörden für die Einweisungen zuständig waren.
Im letzten Kapitel gehen die Autor_innen ausführlich auf die anhaltende Stigmatisierung und Diskriminierung von Frauen ein, die als ‚asozial‘ von den Nationalsozialisten in Österreich verfolgt und inhaftiert wurden. Die Analyse der Entschädigungspolitik gibt Aufschluss über die bis heute fortbestehende stigmatisierende Sichtweise. Hierfür wird durch Fallgeschichten die Gesetzeslage ebenso erörtert wie die tatsächliche Anerkennung der Opfer und deren Entschädigung. Die hohe Anzahl der Anträge, denen nicht stattgegeben wurde, zeigt, dass behördlicher Ermessens- und Interpretationsspielraum erheblich zu einer „Kontinuität der Ausgrenzung und Diskriminierung von als ‚asozial‘ Verfolgten“ beitrug (S. 307). Eine vergleichende Betrachtung der Strafprozesse gegen Täter_innen, die in den Anstalten arbeiteten, zeigt, wie die Opfer wahrgenommen beziehungsweise charakterisiert wurden. Wiederholt wird von den Täter_innen auf die Notwendigkeit von Strafmaßnahmen aufgrund des ‚asozialen‘ Verhaltens der inhaftierten Frauen hingewiesen und deren Glaubwürdigkeit hinterfragt. Der Hinweis auf das ‚asoziale‘ Verhalten als biologische Veranlagung spiegelt wider, wie tief verankert die nationalsozialistische erbbiologische Lehre auch nach Kriegsende noch war. Das gering ausfallende Strafmaß gegen die Täter_innen macht ebenfalls deutlich, dass den Aussagen der als ‚asozial‘ stigmatisierten Frauen wenig Glauben geschenkt und stattdessen an ihrer moralischen Integrität gezweifelt wurde. Die Stigmatisierung durch den Begriff ‚Asozialität‘, so konstatieren die Autor_innen, ist auch im 21. Jahrhundert noch vorhanden und lebendig. Besonders kritisch gesehen werden die politischen Diskurse und ein unsolidarisches Gesellschaftsklima, das einerseits gegen Fremde, Faule, und Kranke hetzt und andererseits Sozialleistungen kürzt, wenngleich (noch) nicht von ‚Asozialen‘ gesprochen wird.
Das vorliegende Buch leistet einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Verfolgung von als ‚asozial‘ stigmatisierten Frauen in Österreich während des Nationalsozialismus. Sowohl die Hintergründe als auch die Durchführung der Verfolgung werden bis ins kleinste Detail erforscht und in ein Gesamtbild eingefügt. Es wird deutlich, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln die als ‚asozial‘ klassifizierten Frauen in die Mühlen der NS-Justiz gerieten und wie ihre folgende Inhaftierung legitimiert wurde. Für Österreich werden ebenfalls unterschiedliche Beweggründe für die Einlieferung in verschiedene Anstalten herausgearbeitet, vor allem, was die zwei Hauptbewertungsstränge angeht: Nicht-Einfügen in die nationalsozialistische Arbeitsnorm einerseits und sexuell deviantes Verhalten andererseits. Anschaulich skizzieren die Autor_innen durch Fallgeschichten, welchen Weg die Frauen nach der ersten Einweisung gingen und dass es normalerweise nicht bei einer Anstalt blieb. Etwas zu kurz und oberflächlich geraten sind die Analysen der KZ Ravensbrück und Uckermark, wobei die Autor_innen hierzu anmerken, dass die schlechte Quellenlage eine genaue Erforschung erschwert und nur wenige Zeitzeug_innenen noch befragt werden können. Trotzdem gelingt es zumindest im Ansatz, den Leidensweg der Frauen zu dokumentieren. Die abschließende Betrachtung der Kontinuitäten von Stigmatisierung und Diskriminierung im Österreich der Nachkriegszeit belegt eindrucksvoll, wie lebendig nationalsozialistische Denkmuster und Rechtfertigungsgrundlagen noch immer sind. Kritisch gesehen werden sollte allenfalls der Titel des Buches und die daran anschließende Erwartungshaltung, es gehe vorrangig um Deutschland. Bei dem Buch handelt es sich um eine Analyse der Verfolgung von ‚asozialen‘ Frauen in und aus Österreich während des Nationalsozialismus.
Ayaß, Wolfgang (1998): ‚Gemeinschaftsfremde‘. Quellen zur Verfolgung von Asozialen 1933–1945, Materialien aus dem Bundesarchiv, H. 5, Koblenz.
Amesberger, Helga/Auer, Katrin/Halbmayer, Brigitte (2010): Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern [4. Aufl.], Wien: Mandelbaum.
Czech, Herwig (2003): Erfassung, Selektion, und ‚Ausmerze‘. Die Abteilung ‚Erb- und Rassenpflege‘ des Wiener Hauptgesundheitsamtes und die Umsetzung der NS-‚Erbgesundheitspolitik‘ 1938 bis 1945. Diplomarbeit an der Universität Wien.
Czech, Herwig (2007): Ärzte am Volkskörper. Die Wiener Medizin und der Nationalsozialismus. Dissertation an der Universität Wien.
Schikorra, Christa (2001): Asoziale Häftlinge im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück: Die Spezifik einer Häftlingsgruppe. In: Röhr, Werner/Berlekamp, Brigitte (Hg.): Tod oder Überleben – Neue Forschungen zur Geschichte des Konzentrationslagers Ravensbrück. Berlin: Edition Organon, 89–122.
Spring, Claudia A. (1999): Verdrängte Überlebende. NS-Zwangssterilisationen und die legistische, medizinische und gesellschaftliche Ausgrenzung von zwangssterilisierten Menschen in der Zweiten Republik. Diplomarbeit an der Universität Wien.
Spring, Claudia A. (2007): Diffamiert – zwangssterilisiert – ignoriert. Hermine B. und die Folgen ihrer Verfolgung als ‚asoziale‘ von der NS-Zeit bis in die Gegenwart. In: Gehmacher, Johanna/Hauch, Gabriella (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 204–219.
Spring, Claudia A. (2009): Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. doi: 10.26530/OAPEN_437180.