Open Gender Journal (2021) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Befreiung aus kolonialen (Denk-)Verhältnissen: Feministische Theorie jenseits von Europa

Rezension von Heike Kahlert


Rezensionen zu Anke Graneß, Martina Kopf, Magdalena Kraus:
Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika.
Eine Einführung
Wien: facultas Verlag 2019.
3323 Seiten, ISBN 978-3-8252-5137-6, € 27,99


Abstract

Anke Graneß, Martina Kopf und Magdalena Kraus legen eine gut lesbare und übersichtlich gegliederte Einführung in „nicht-westliche“ feministische Theorien der zweiten Hälfte des 20. und des Beginns des 21. Jahrhunderts vor und regen dazu weitere Forschungen an. Vorgestellt werden ausgewählte Theoretiker*innen und ihre Konzepte sowie zentrale Debatten, die zum Teil nach Regionen – Schwerpunkte sind Subsahara-Afrika, der Nahe und Mittlere Osten sowie das spanischsprachige Lateinamerika – und zum Teil nach Themen – Postkoloniale Theorie und Kritik, Feminismus im Islam und Ökofeminismus – gegliedert sind. Dabei wird der Eurozentrismus im Denken und in Begrifflichkeiten reflektiert und daran erinnert, dass feministische Theorie im Wechselspiel mit gelebter sozialer und politischer Praxis steht.

Schlagworte: Feminismus, Gerechtigkeit, Gleichstellungspolitik, Globalisierung, Intersektionalität, Kolonialismus, Postkolonialismus, Soziale Bewegung, Wissenschaft

Zitationsvorschlag: Kahlert, Heike (2021): Befreiung aus kolonialen (Denk-)Verhältnissen: Feministische Theorie jenseits von Europa. Rezension zu: Anke Graneß, Martina Kopf, Magdalena Kraus (2019): Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika. In: Open Gender Journal (2021). doi: 10.17169/ogj.2021.164.

Copyright: Heike Kahlert. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2021.164

Veröffentlicht am: 16.02.2021

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Intersektioneller Feminismus als Herausforderung

Angesichts der um sich greifenden Globalisierung und Transnationalisierung sind auch Frauenbewegungen und feministische Theorie aufgefordert, die damit verknüpften Herausforderungen im Denken und Handeln aufzugreifen. Dabei geraten zunehmend auch die Folgen des über mehrere Jahrhunderte hinweg andauernden Kolonialismus, des hartnäckig nachwirkenden Glaubens an eine kulturelle Überlegenheit ‚weißer‘ Menschen und die damit verbundene Ungleichheit in den Blick. Feministisches Denken und Handeln soll demnach die Verflechtungen, Interdependenzen und Überkreuzungen von Ungleichheitskategorien systematisch berücksichtigen und die eigenen Privilegien kritisch reflektieren, ein Anliegen, das unter dem Stichwort ‚Intersektionalität‘ verhandelt wird. Dabei gerät auch die Kategorie Geschlecht, das Grundtheorem feministischer Analyse und Kritik, selbst unter Verdacht, eine „koloniale Wissenskategorie“ (Winkel 2019, 293) zu sein.

Spätestens seit den 1990er Jahren bereichern kontroverse Positionen bezüglich möglicher Definitionen, Positionen und Denkansätze für einen globalen bzw. transnationalen, intersektionellen und postkolonialen Feminismus die Agenda (vgl. Ruppert/Scheiterbauer 2020; Kerner 2020), und das zugehörige wissenschaftliche Feld ist kaum mehr überschaubar. Gleichwohl mangelt es an Übersichtswerken für die wissenschaftlich interessierte Gemeinschaft und an Einführungen für die akademische Lehre, die angesichts der überbordenden Komplexität der Debatten und Ansätze hier Ordnung zu schaffen versuchen und einen Weg durch den intellektuellen Dschungel bahnen. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Vorhaben herausfordernd ist und dessen Umsetzung per se Widerspruch hervorrufen dürfte: Jeder Ordnungsversuch ist notwendigerweise voraussetzungsvoll und hürdenreich, denn er muss nicht nur kategorisieren, was immer auch mit Begrenzungen verbunden ist, sondern braucht auch den Mut zur Lücke.

Anke Graneß, Martina Kopf und Magdalena Kraus kommt das Verdienst zu, sich dieser Aufgabe erfolgreich gestellt zu haben. Die von ihnen vorgelegte „Einführung in feministische Theorien aus verschiedenen Regionen der Welt“ (S. 9) baut auf eigenen Erfahrungen mit einer mehrfach durchgeführten Lehrveranstaltung zum Thema „Feministische Theorie interkulturell“ an der Universität Wien auf. Die Autorinnen begründen ihr Projekt mit der erlebten Notwendigkeit, eine Einführung in feministische Theorien aus verschiedenen Regionen der Welt zu konzipieren, „da sich das, was unter feministischer Theorie heute im Allgemeinen verstanden wird, nahezu ausschließlich auf die Arbeiten und Konzepte bekannter europäischer und nordamerikanischer Autorinnen bezieht“ (S. 9); auch die Darstellung der historischen Entwicklung feministischer Bewegungen und feministischer Theorien beschränkte sich im Wesentlichen entsprechend: „Selten haben Studierende im deutschsprachigen Raum die Gelegenheit, sich mit Feminismen außerhalb Europas und Nordamerikas zu beschäftigen“ (S. 9), und das, obwohl die Forderungen nach mehr Diversität in der Lehre und nach mehr kognitiver und epistemischer Gerechtigkeit seit Beginn des neuen Jahrtausends immer lauter würden. Die vorliegende Einführung ist in sechs, namentlich gekennzeichnete Kapitel zuzüglich einer gehaltvollen, nicht nummerierten Einleitung gegliedert, in der Ziel und Konzept des Buches vorgestellt sowie die interkulturelle Perspektive und zentrale Begriffe erläutert werden.

Interkulturalität und Reflexion des Eurozentrismus

Anke Graneß und Martina Kopf stellen eingangs heraus, dass der von ihnen kurz definierte Begriff Feminismus zwar ein europäischer Begriff sei, seine Anliegen – Emanzipation der Frau und Geschlechtergerechtigkeit – jedoch weit über diesen geopolitischen Raum hinausweisen und insofern die im sogenannt westlichen Diskurs vorfindliche Ignoranz gegenüber anderen Regionen nicht angebracht sei. Die universalisierende Betrachtung der Analysekategorie Geschlecht, die ebenfalls von den beiden Autorinnen definiert wird, und die damit einhergehende Annahme einer allgemeinen Unterdrückung der Frau weisen sie „als Beitrag zur Stabilisierung der Vormachtstellung eurozentrischer Theorie“ (S. 11) zurück. Trotz der zunehmenden Pluralisierung feministischer Theorie und Kritik in Europa habe es im deutschsprachigen Raum bisher kaum eine Öffnung für feministische Theorien und Konzepte aus Lateinamerika, Asien und Afrika gegeben. Wenngleich Feminismus im Buch als Bewegung und Theorie verstanden wird, ist es schade, dass der verwendete Theoriebegriff nicht auch expliziert wird.

Den von den Autorinnen vertretenen Ansatz für die Auseinandersetzung mit Feminismen aus nicht-europäischen bzw. nicht-nordamerikanischen Regionen beschreiben sie als interkulturell, in Anlehnung an das in der Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie und deren Zeitschrift „Polylog“ entwickelte Verständnis: „Ein interkultureller Zugang nimmt die Tatsache ernst, dass kulturell, sozioökonomisch, politisch und historisch unterschiedliche Kontexte zu sehr unterschiedlichen Fragen und Problemen führen können – aber auch zu unterschiedlichen Antworten auf dieselbe Frage. Eine solche Perspektive ist gekennzeichnet durch das aufrichtige Bemühen, die Gleichheit der theoretischen Beiträge aus verschiedenen Regionen und Traditionen der Welt anzuerkennen und sie in einen offenen Diskurs über verschiedene theoretische Fragen zu integrieren.“ (S. 16) Darüber hinaus fordere ein solcher Ansatz dazu auf, die eigene Kontextualität als europäische Wissenschaftler*innen und deren Niederschlag im eigenen Denken bewusst zu reflektieren. Die interkulturelle Perspektive beinhalte aber auch, Feminismus als interkulturell zu begreifen und feministische Theorie als in Frauenbewegungen und Bewegungen für soziale Gerechtigkeit verwurzelt anzusehen. Das so definierte Interkulturalitätsverständnis wird im Buch durchgängig angewendet und erinnert wohltuend daran, dass Feminismus nicht nur elaborierte Theoriebildung, sondern auch gelebte soziale und politische Praxis umfasst.

Die im Buch erfolgende sprachliche Gegenüberstellung von „westlichen“ und „nicht-westlichen“ Feminismen halten die Autorinnen selbst für nicht unproblematisch, übernehmen sie letztlich aber in der Darstellung der feministischen Theorien von ihren Protagonist*innen, um die kritisierte Machtasymmetrie zum Ausdruck zu bringen. Nachahmenswert ist auch die kritische Reflexion des insbesondere im deutschsprachigen Raum schwierigen Begriffs „Rasse“, der im Buch in Anführungszeichen oder aber dem Textoriginal gemäß auf Englisch oder Spanisch verwendet wird. So wird deutlich, dass einerseits „jegliche Einteilung von Menschen aufgrund äußerer oder auch genetischer Merkmale“ (S. 21) abzulehnen ist, Einteilungen entlang der Hautfarbe aber andererseits noch immer „wirkmächtige Unterdrückungsinstrumente sind, die die soziale, ökonomische und politische Situation eines Subjekts grundlegend bestimmen“ (S. 21f.), und dass diese Begrifflichkeit auch in den vorgestellten Theorien genutzt wird.

Zielführende Mischung aus Regionen- und Themenzentrierung

Als wesentliches Ziel des Buches benennen die Autorinnen eine Vorstellung feministischer Theoretiker*innen und ihrer Konzepte ebenso wie zentraler Debatten aus anderen Regionen der Welt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Theorien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. In geopolitischer Hinsicht konzentrieren sich die Ausführungen auf das subsaharische Afrika und seine Diaspora, (das spanischsprachige) Lateinamerika sowie den Nahen und Mittleren Osten, partiell auch Südostasien, da diese Regionen den Forschungsschwerpunkten der Verfasserinnen entsprechen. Mit dieser Ausrichtung will der Band „eine Bestandsaufnahme von Diskussionsschwerpunkten, Fragen und Perspektiven“ (S. 18) liefern und „sowohl als Grundlage für die weitere Forschung auf diesem Gebiet […] als auch als Handbuch für Lehrende sowie als Basislektüre für Studierende“ (S. 18f.) dienen.

In der Strukturierung des Buches kombinieren Graneß, Kopf und Kraus Kapitel mit einem regionalen Fokus – afrikanisch-nordamerikanischer Feminismus in Nordamerika (Kapitel 2), Feministische Theorie in Afrika (Kapitel 3) und in Lateinamerika (Kapitel 5) – mit solchen mit einem themenzentrierten Fokus – Postkoloniale Theorie und Kritik (Kapitel 1), Feminismus im Islam (Kapitel 4) und Ökofeminismus (Kapitel 6). Diese Mischung von Regional- und Themenbezug irritiert zunächst, erweist sich beim Lesen aber als sinnvoll, da nur so einerseits die regionalen Besonderheiten zielführend in ihren jeweiligen Kontexten herausgestellt werden können, und andererseits auch verdeutlicht werden kann, dass (manche) Themen nicht nur lokale Aufmerksamkeit erfahren. Dabei wird auch deutlich, dass es durchaus regionenübergreifende Bezüge und einen Austausch zwischen den Vertreter*innen der einzelnen Ansätze gibt. Überaus gelungen sind auch die Mischung aus bekannten und eher unbekannten Theorien, Positionen und Autor*innen sowie die Verknüpfung von in die Kapitel einführenden Abschnitten, die für das Verständnis und die Einordnung der vorgestellten Theorien notwendige Informationen zum Kontext geben, mit ausführlicheren Darstellungen einzelner Denkansätze. Hilfreich für die Lehre sind auch übersichtlich gestaltete Literaturverzeichnisse je am Ende eines Kapitels und das ergänzende Gesamtliteraturverzeichnis am Schluss.

Ein solches Unternehmen hat selbstverständlich Lücken, die nicht zuletzt durch die begrenzte Reichweite fremdsprachlicher Rezeptionsmöglichkeiten von Texten aus anderen Teilen der Welt bedingt sind. Diese betreffen sowohl Regionen – etwa Nordafrika, Brasilien, die Karibik, weite Teile Asiens und Ozeaniens – als auch Themen, um nur einige zu nennen: Epistemologien, Macht, Herrschaft und Gewalt, Sozial- und Staats- bzw. Politikkritik, Sexualität, Körper, Generativität und Gesundheit. Lohnenswert wäre sicher auch ein vertiefter Blick auf aktuelle Entwicklungen, Debatten und Positionen. Die Benennung dieser Lücken, die wiederum unvollständig bleibt, soll jedoch keineswegs die Wertschätzung für das vorliegende Buch schmälern. Diesem gebührt das Lob, einen gut lesbaren Überblick in „nicht-westliche“ feministische Theorien zu leisten und eine brauchbare Handreichung für die Lehre vorzulegen. Darüber hinaus enthält der Band Anregungen für weitere Forschungen zu diesem weiten (Wissenschafts-)Feld. Zugleich wird auch deutlich, dass weitere Publikationen folgen sollten: Mit Blick auf die akademische Lehre wären weitere Einführungsbücher mit anderen Schwerpunktsetzungen in regionaler und/oder thematischer Hinsicht und Textsammlungen sinnvolle Ergänzungen; und insbesondere die Forschung würde von entsprechenden Handbüchern profitieren. Graneß, Kopf und Kraus liefern dafür eine gut lesbare und längst überfällige Grundlage.

Literatur

Kerner, Ina (2020): Provinzialismus und Semi-Intersektionalität: Fallstricke des Feminismus in postkolonialen Zeiten. In: Feministische Studien 38 (1), 76-93. doi: 10.1515/fs-2020-0005.

Ruppert, Uta/Scheiterbauer, Tanja im Gespräch mit Nikita Dhawan, Esther Franke, Radwa Khaled und Christa Wichterich (2020): Transnationale Feminismen zwischen Dekolonisierung, imperialen Verwobenheiten und der Suche nach neuen Solidaritäten. In: Feministische Studien 38 (1), 21-38. doi: 10.1515/fs-2020-0002.

Winkel, Heidemarie (2019): Postkolonialismus: Geschlecht als koloniale Wissenskategorie und die weiße Geschlechterforschung. In: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Wiesbaden: Springer VS, 293-302. doi: 10.1007/978-3-658-12500-4_36-1.