Open Gender Journal (2021) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Doing Gender – Ästhetische Inszenierungen auf der Schwelle

Rezension von Tabea Ott


Rezensionen zu Anne-Berenike Rothstein (Hg.):
Kulturelle Inszenierungen von Transgender und Crossdressing.
Grenz(en)überschreitende Lektüren vom Mythos bis zur Gegenwartsrezeption.
Bielefeld: transcript Verlag 2021.
274 Seiten, ISBN: 978-3-8376-5088-4, € 40,00


Abstract

Gemeinsamer Untersuchungsgegenstand aller Beiträge des Sammelbandes ist die ästhetische Inszenierung des Spiels mit Geschlecht entlang von zentralen Begrifflichkeiten wie Schwelle, Grenze und Fluidität. Der Band geht auf eine Ringvorlesung der Universität Koblenz zurück, zu der Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen zum gemeinsamen Nachdenken über das Phänomen Transgender und Crossdressing eingeladen waren. Anne-Berenike Rothstein präsentiert in dem daraus hervorgegangenen Sammelband ein breites, chronologisch orientiertes Passepartout des bereits in die Antike zurückreichenden Phänomenbereichs der Auflösung und Überschreitung von Geschlechtergrenzen in Theater, Oper, Literatur, Film, bildenden Künsten und Popkultur. Durch die den Beiträgen zugrundeliegende, jeweils unterschiedliche Definition von Transgender und Crossdressing entsteht der Eindruck einer eklektischen Zusammenschau, in dem die Spannbreite eines kulturellen „Rereadings“ von Genderinszenierungen deutlich wird.

Schlagworte: Gender, Cross-dressing, Transgender, Kunst, Kultur

Zitationsvorschlag: Ott, Tabea (2021): Doing Gender – Ästhetische Inszenierungen auf der Schwelle. Rezension zu: Anne-Berenike Rothstein (Hg.): Kulturelle Inszenierungen von Transgender und Crossdressing. In: Open Gender Journal (2021). doi: 10.17169/ogj.2021.179.

Copyright: Tabea Ott. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2021.179

Veröffentlicht am: 30.06.2021

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Doing Gender – ein historischer Blick

Gemeinsam ist den Beiträgen in Rothsteins Sammelband die dekonstruktivistisch geprägte Perspektive auf Geschlecht. Demnach ist die Kategorie Geschlecht performativ, wie die in dem Sammelband vielfach zitierte Judith Butler in ihrem erstmals 1990 erschienen Buch „Gender Trouble“ schreibt. Gender ist nach Butler nicht distinkt, sondern vielmehrt sozial konstruiert und durch eine stilisierte Repetition von Handlungsakten hervorgebracht. Der Begriff doing gender wird deshalb genutzt, um genau diesen Aushandlungsprozess, der im Zusammenhang mit Geschlecht stattfindet und tendenziell unabschließbar ist, auszudrücken. In der ästhetischen Überschreitung eines binären Geschlechtersystems werden neue Möglichkeitsräume erprobt sowie gesellschaftlich zementierte Vorstellungen hinterfragt. Das binäre Geschlechtermodell gerät – so malt es der Sammelband in historischer Perspektive nach – in die Krise. An seine Stelle treten fluide, grenzüberschreitende Konzeptionen von Geschlecht.

Frühneuzeitliches Crossdressing

Der Weg, der von den einzelnen Beiträgen markiert wird, beginnt mit Untersuchungen zur Inszenierung von Geschlecht durch Kleidung und Verhalten, wobei insbesondere das Crossdressing, das seinen ästhetischen Reiz gerade vor dem Hintergrund einer binären Geschlechtermatrix entfaltet, zentraler Analysegegenstand ist. Anne Enderwitz fragt nach dessen subversiven Potential auf der frühneuzeitlichen Bühne. Ob es sich bei Shakespeares Inszenierungen lediglich um ein lustvoll erotisches Spiel (vgl. S. 30) der doppelten Verkleidung handelt oder ob bereits eine Kritik an bestehenden Geschlechterverhältnissen und die Reflexion von Geschlechterperformanz eingeschrieben sind, bleibt letztlich offen. Daran anschließend zeigt der Beitrag von Tanja Schwan die Ambivalenz der ästhetischen Ausgestaltung von Geschlechteruneindeutigkeiten auf der Opernbühne des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskurse um Drag und Trans. Ihr gelingt es, in den von ihr analysierten Stücken den besonderen Schwebezustand herauszuarbeiten, in dem sich die geschlechtsuneindeutigen Figuren befinden. Dabei legt sie als jeweiliges zeitgeschichtliches Framework das one-sex-model bzw. das two-sex-model zugrunde, vor dessen Hintergrund die Beurteilung der Geschlechtsfluidität jeweils eine andere Beurteilung erfährt. Auch im darauf folgenden Beitrag von Susanne Gramatzki wird das Crossdressing, diesmal in dem im Kontext der Aufklärung entstandenen Werk „Les Conversations d’Émilie“ von Louise Florence Tardieu d’Esclavelles, auf seine Implikationen hin untersucht. Sein Potential, so die These Gramatzkis, besteht nicht nur darin, dass ein weiblicher Blick bzw. eine „ré-écriture“ (S.76) auf pädagogische Diskurse der Aufklärung nachverfolgt, sondern Crossdressing gleichsam als Erziehungsmethode auf dem Weg hin zu einer ausgewogenen Entwicklung und damit als Erweiterung der zeitgenössischen Geschlechterdiskurse – etwa in Bezug auf die weibliche Bildung – gelesen werden kann.

Geschlechterperspektiven im Umbruch

Im Mittelteil des Sammelbandes zeigen sich noch deutlicher die kulturell-gesellschaftlichen Verflechtungen: In sich wandelnden gesellschaftlichen Gegebenheiten werden progressivere Inszenierungen von Geschlecht entworfen, die selbst wiederum in die Gesellschaft hineinwirken. Der Analysegegenstand des Beitrags von Anne-Berenike Rothstein bietet neben einem zeitlichen Sprung in das Fin de siècle ein Porträt der Dekadenzautorin Rachilde und deren ästhetischer Inszenierung von Geschlecht über eine reine Inhaltsebene hinaus. Hier wie auch in Andrea Maihofers Zusammenschau der für die feministische Theorie so wichtig gewordenen Texte Virginia Woolfs („Ein Zimmer für sich allein“ und „Orlando“) wird insbesondere der Aspekt der Androgynität hervorgehoben. Die einem jeden Menschen innewohnende Androgynität verunmögliche für Woolf eine Vereindeutigung von Geschlecht und ermögliche stattdessen ein perspektivisches Weiterdenken und Aufsprengen von Binarität. Der Prozess der Identitätsbildung wird hier bereits als „Sein im Werden“ (S. 139) und damit als fluid und unabschließbar vorgestellt. Maihofer gelingt es, in ihrem Aufsatz zu zeigen, dass dem Werk Woolfs zumindest in Ansätzen die Vorstellung eines antiessentialistischen, materialistisch (de)konstruktiven Verständnisses von Geschlecht zugrunde liegt (vgl. S. 140). Sie identifiziert mit ihrer Analyse einen wichtigen Umbruchspunkt auf dem Weg hin zu postmodernen Vorstellungen eines doing gender.

Moderne Trans-formationen auf der Schwelle

Im von Sabine Schrader untersuchten Film „Une Nouvelle Amie“ von 2014 wird mit den Erkenntnissen der Gender Studies auf inhaltlicher und filmästhetischer Art gespielt. Er erweist sich im Rahmen der Zusammenstellung des Sammelbandes deshalb als besonders interessanter Analysegegenstand, weil er sich einer Einordnung in eine hetero- wie auch homonormative Matrix verweigert. Die Kopplung von Begehren an gender werde hier radikal durchbrochen und das Crossdressing zum zentralen Knotenpunkt der filmischen Erzählung gemacht.

Neben dem Film findet auch die Gattung des teil(auto-)biografischen Romans ihren Platz in dem Sammelband. Christa Binswanger analysiert das 2014 erschienene Buch „Geboren als Frau. Glücklich als Mann. Logbuch einer Metamorphose“, in dem die Transition von Frau zu Mann, angelehnt an die Lebensgeschichte des Autors Niklaus Flütsch, im Zentrum steht. Dabei schlägt Binswanger eine sog. palimpsestische Lesart vor, mithilfe derer sie die unterschiedlichen im Buch angelegten Scripts (normativ, intrapsychisch, interpersonell) analysiert und Subjektkonstitution in Anlehnung an die im Palimpsest sich ausdrückende Metapher des Überschreibens und wechselseitigen Hindurchscheinens als unabschließbar und prozesshaft auszuweisen sucht. Mit diesem von ihr entwickelten Analysewerkzeug, das sie aus Anleihen der Affect, Gender und Queer Studies entwickelt, gelingt ihr ein die Einzeldisziplinen überschreitendes Textverständnis, das der inhaltlichen Thematik durch Veränderung des Zugriffs gerecht zu werden sucht.

Auf einer ganz anderen Ebene bewegt sich Kerstin Böhm, die sich mit ihrem Beitrag auf das vieldiskutierte Feld der Kinder- und Jugendliteratur wagt, dessen Gegenstandsbereich durchaus umstritten ist (vgl. Gansel 2019, 5ff.). Ob der Begriff „Schlachtfeld der Geschlechternormen“ (S. 198), dessen sich Böhm in Bezug auf die Kinder- und Jugendliteratur mehrfach bedient, stimmig ist, mag dahingestellt sein. Fest steht, dass die Auswahl, Produktion und Distribution der Kinder- und Jugendliteratur größtenteils von Erwachsenen gesteuert wird, wobei die didaktische und identitätsstiftende Funktion in der Wahl der Stoffe und Handlungsfiguren nach wie vor eine zentrale Rolle spielt. Anhand der von ihr analysierten Beispiele zeigt Böhm Chancen und Potentiale der Kinder- und Jugendliteratur, aber auch deren regressive Verhaftungen, wenn es um Transidentität geht.

Gender Trouble

Uneindeutigkeiten und die Transzendierung von Geschlechterkategorien werden von Anne-Marie Lachmund und im Interview zwischen Anne-Berenike Rothstein und Gabriel Baur thematisiert. Lachmund stellt mit ihrem Beitrag „Gender Trouble im Paradies“ die Venus-Figur in das Zentrum ihrer Überlegungen. Ausgehend von der klassischen Darstellung bei Botticelli und im antiken Ursprungsmythos zeigt sie deren Aufnahme und Transformation in Marcel Prousts Werk „À la recherche du temps perdu“ sowie anhand verschiedener popkultureller Beispiele. Das den Sammelband abschließende Interview zwischen Anne-Berenike Rothstein und Gabriel Baur, der Regisseurin des Dokumentarfilms „Venus Boyz“, lädt schließlich, wie auch die übrigen Beiträge, dazu ein, Horizonte bzw. Räume zu eröffnen, zu parodieren und zu erforschen, die sich der Kategorisierung, der Festschreibung und häufig auch (bewusst) dem Verstehen entziehen, um so die die Offenheit und Unabschließbarkeit eines jeden Selbstbezugs zur Darstellung zu bringen.

Fazit

Die einzelnen Beiträge vereint, dass sie Personen, Motive, literarische und künstlerische Ausdrucksweisen analysieren, in denen Schwellen und Schwellenerfahrungen von zentraler Bedeutung sind. Gefragt wird nach den Uneindeutigkeiten und Konstituierungsbedingungen von Geschlecht ebenso wie nach den kulturellen Inszenierungen und deren Wechselwirkungen mit den jeweils zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontexten. Dabei liegen Schwerpunkte der Betrachtung auf dem Crossdressing im Zuge eines Rollenspiels unter Zuhilfenahme von entsprechender materieller Ausstattung und Gestus wie auf der Frage nach den mit Transidentität einhergehenden Implikationen und deren Korrelation mit binären Geschlechterkonstruktionen. Auch der Aspekt des Begehrens spielt in den verschiedenen Beiträgen immer wieder eine Rolle. Wo in den frühneuzeitlichen künstlerischen Inszenierungen am Ende zumeist heteronormative Verhältnisse restituiert werden, verwehren sich moderne und postmoderne Inszenierungen zunehmend hetero- wie auch homonormativer Vereindeutigung. Die Schlaglichter, die der Band wirft, bzw. die Rereadings bekannter Texte mit einer dekonstruktivistischen Brille lassen allerdings nach ihrem spezifisch neuen Beitrag zur Debatte fragen. Vorgefundene dekonstruktivistische Lese- und Analysebrillen werden adaptiert, um die einzelnen Phänomene einzuordnen. Ihre Weiterentwicklung an den vorgestellten Texten, wie sie beispielsweise Binswanger zu entfalten sucht, gelingt nur marginal. Als Alleinstellungsmerkmal des Sammelbandes kann allenfalls die Auswahl der Beispiele und ihre chronologische Zusammenstellung genannt werden. Aber auch hier manifestiert sich letztlich der Eindruck, dass insbesondere die letzten Beiträge relativ lose und unverbunden nebeneinander stehen. Wie Rothstein bereits in der Einleitung des Sammelbandes bemerkt, sind es „unterschiedliche […] Definitionen von Transgender und Crossdressing“ (S. 7), die den Beiträgen zugrunde liegen. Dies birgt zwar die Möglichkeit einer Auslotung des Begriffsfeldes, aber weil die theoretische Fundierung der Phänomenbeschreibung nachgeordnet ist, scheint dies nicht im Fokus zu stehen. Gleichsam als Randnotiz findet sich in dem Beitrag von Binswanger eine kurze Problematisierung des Begriffs Transgender (vgl. S.185). Obwohl der Rekurs auf Judith Butler in nahezu allen Beiträgen eine Rolle spielt, wird die bei ihr angelegte differenzierte Unterscheidung von gender, sex und desire nicht tiefergehend reflektiert. Der Begriff gender fungiert gleichsam als polysemer Platzhalter, der eine beliebige theoretische Färbung erfährt. Hier müssen theoretische Tiefenbohrungen und Problematisierungen ansetzen.

Literatur

Gansel, Carsten (2019): Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag.