Open Gender Journal (2021) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Hannah Schmedes
Rezensionen zu Marie-Luise Angerer, Noam Gramlich (Hg.) (2020):
Feministisches Spekulieren. Genealogien, Narrationen, Zeitlichkeiten.
Berlin: Kulturverlag Kadmos.
240 Seiten, ISBN 978-3-86599-446-2, 19,90 €
Mit dem von Noam Gramlich und Marie-Luise Angerer herausgegebenen Sammelband „Feministisches Spekulieren“ ist nicht nur eine Sammlung von verschiedenen Perspektiven zur Methode und Diskursgeschichte des Feministischen Spekulierens erschienen. Darin sind auch die Übersetzungen zweier Texte von Ursula K. Le Guin und Anna Lowenhaupt Tsing enthalten, die unlängst zur Bezugsgröße für feministische Theoretiker*innen geworden sind. Neben einer Auslotung der Bedeutungsspielräume von „Spekulation“ werden im Sammelband Begriffe wie Kritik, Narration und Anthropozän auf ihre blinden Flecke hin abgetastet. Ergebnis ist eine vielstimmige Diskussion über die Wirkmacht sowie Wissensgenerierung von Geschichtsschreibung und Narration.
Schlagworte: Feministische Kritik, Narration, Theorie, Wissenschaft
Zitationsvorschlag: Schmedes, Hannah (2021): Allzubekanntes unvertraut werden lassen. Rezension zu Marie-Luise Angerer, Noam Gramlich (Hg.) (2020): Feministisches Spekulieren. In: Open Gender Journal (2021). doi: 10.17169/ogj.2021.188.
Copyright: Hannah Schmedes. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2021.188
Veröffentlicht am: 02.11.2021, 06.05.2024 (korrigierte Fassung)
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Der Sammelband „Feministisches Spekulieren“, 2020 im kadmos-Verlag erschienen, versammelt sowohl Theoriegeschichten feministischer Kritik an geschlossenen Erzählungen als auch (Re-)Lektüren der in feministischer Tradition stehenden Methode des Spekulierens. Das Anzweifeln einer objektiven Geschichtsschreibung ließe sich mithin als wiederkehrender Modus feministischer Kritik verstehen.
So lässt sich in den 1970er Jahren und im Zuge der zweiten Welle des Feminismus im anglo-amerikanischen Raum eine Häufung von Abhandlungen und Artikeln verzeichnen, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit der Erzählung der menschlichen Evolution vorgenommen wird. Gleichzeitig finden sich zahlreiche Publikationen, die explizit von der Rolle des Geschlechts in der Disziplin der Anthropologie handeln (beispielsweise Golde 1970, Rosaldo/Lamphere 1974). 1972 veröffentlicht Elaine Morgan „The Descent of Woman – The Classic Study of Evolution“, in welcher sie die sprachliche Konstruktion von Evolutionserzählungen vor allem in Bezug auf deren inhärenten male bias reflektiert (vgl. Morgan 1985). In „Toward an Anthropology of Women“ aus dem Jahr 1975 stellt Rayna Reiter die These auf, dass die gesellschaftliche und kulturelle Unterordnung der Frau aus der Annahme heraus resultiere, dass Reproduktion die ursprünglichste Form der Arbeitsteilung sei (vgl. Reiter 1975, 11f.). Im Rahmen dieser aufkommenden feministischen Anthropologie wird also das am Anfang der Menschheitsgeschichte lokalisierte Konzept des Geschlechtsdimorphismus auf seine bis dato unterschwellig gebliebene Voreingenommenheit hinterfragt. Die überwiegende Fixierung auf die Entwicklung männlicher Individuen in der Evolutionsgeschichte stellen auch Nancy Tanner und Adrienne Zihlman in ihrem Artikel „Women in Evolution“ (1976) heraus. Zu ihrer differenzfeministischen Kritik gehört neben der Situierung einer aus überwiegend westlich-männlichen Stimmen bestehenden Evolutionsgeschichte auch der Hinweis auf deren narrativ-spekulative Dimension. Auf der Basis dieser Feststellung nehmen die Autorinnen eine ebenso spekulative Umgewichtung der zweigeschlechtlichen Gleichung vor, indem sie die Rolle weiblicher Erfinderinnen in der Entwicklung von Technologie und Ökonomie akzentuieren (vgl. Tanner/Zihlman 1976, 599). Selbiges greift Elizabeth Fisher in ihrem Buch „Woman’s Creation. Sexual Evolution and the Shaping of Society“ auf. Das Kapitel „The Carrier Bag Theory of Evolution“ beginnt mit der spekulativen Verschiebung, dass das erste menschlich gefertigte Werkzeug ein Behälter, ein Beutel, eine Carrier Bag, war (vgl. Fisher 1979, 56–61).
Fishers Text wiederum dient Ursula K. Le Guin als Inspiration für ihre Kurzgeschichte „The Carrier Bag Theory of Fiction“ (vgl. Le Guin 1996, 150). Die Kurzgeschichte wurde in den letzten fünf Jahren, nicht zuletzt durch Donna Haraways Bezugnahme in „Staying With the Trouble“, (vgl. Haraway 2016, 39) wiederentdeckt und konnte ein feministisches Verständnis von Perspektive, Genealogie und Narration erneut prägen. Zahlreiche Lesekreise, Workshops und Diskussionen im deutsch- und anglo-amerikanischen Raum haben sich organisiert, um diesen Text hinsichtlich zeitgenössischer Fragestellungen zu Themen wie Ökologie, Nachhaltigkeit und storytelling wiederzulesen.[1]
Mit dem Sammelband „Feministisches Spekulieren“ ist Le Guins Text erstmalig in deutscher Übersetzung und unter dem Titel „Die Tragetaschentheorie der Fiktion“ erschienen.[2] Er fungiert im Kontext des Bandes als Einstimmung für die diversen Beiträge, die von Noam Gramlich und Marie-Luise Angerer im Anschluss an den Workshop „Feminist Speculations with Strange Bedfellows“ (28.–29. Juni 2018) herausgegeben wurden. Carrier Bags sind bei Le Guin nicht nur ein kulturgeschichtliches Artefakt, sondern bilden ihrer Ansicht nach auch eine Form des relationalen Erzählens, das Geschichten sinnbildlich als Taschen versteht, in welchen sich Dinge ansammeln und miteinander in Verbindung treten (vgl. Le Guin 1996, 151f.). Für diesen Sammelband bedeutet das nicht weniger, als dass mit gegenhegemonialen, dekolonialen und queer-feministischen Praktiken des Geschichtenerzählens andere Zugänge zum Schreiben, Denken und zu Formen der Kritik gefunden werden.
Dies wird in Bezug auf die Methode des Feministischen Spekulierens verhandelt, mit der sowohl ebenjene Verschiebung von Perspektive und Aufmerksamkeit als auch das Imaginieren von anderen Zukünften – aber auch Vergangenheiten und Gegenwarten – beschrieben wird. Mit Gegenwarten benennt Katrin Köppert in Anlehnung an Kara Keelings Begriffsschöpfung in „Queer Times, Black Futures“ und an Kodwo Eshuns „Further Considerations on Afrofuturism“ eine Strategie der Wiederaneignung von verlorenen Zukünften (226). Schon in der Einleitung des Bandes macht Noam Gramlich deutlich, wie die prüfende Lokalisierung von Wirkzusammenhängen und deren Bedingungen, das Herausstellen potenzieller Veränderbarkeit als auch ein „situiertes Spekulieren“ einen beständigen Teil feministischer Theorien bildet. Die Autor*innen des Bandes verhalten sich auf je unterschiedliche Weise zum Begriff der Spekulation und reflektieren zudem die Bedingungen und Möglichkeiten einer feministischen Re-Narrativierung von allzu bekannten Geschichten. Johannes Ungelenk nimmt sich so beispielsweise einer Unterscheidung von Feministischem Spekulieren und dem Spekulativen Realismus nach Quentin Meillassoux an (62f.) und Julia Grillmayr verortet in Spekulation und Fiktion eine mögliche Antwort auf die von ihr problematisierte Falle der Essentialisierung und der Repräsentation (160).
In Haraways „speculative feminism“ sind es Denk-Gefährt*innen wie die Cyborg und die Hündin Cayenne, mithilfe derer bestehende Beziehungs- und Machtgefüge hinterfragt und über andere Formen des Zusammenlebens und des -denkens spekuliert werden kann (vgl. Haraway 2016, 104f.). Kathrin Thiele arbeitet anhand dieser Figuren verschiedene Formen feministischer Kritik heraus, um so den Begriff der Kritik selbst zu öffnen, ohne diesen als abgeschlossen zu begreifen. Mit Referenz auf Haraway, Karen Barad und Rosi Braidotti zeigt Thiele, inwiefern Kritik durchaus einen relationalen Zugang zu Denken und Wissen schaffen kann, ohne dabei hegemonial-westliche Muster zu affirmieren. Methodisch bedeutet das, anstatt in „kolonial-kartesianischer Tradition“ nach Gegenüberstellungen zu suchen, vielmehr eine grundlegende Ambivalenz in kritisches Denken einzubeziehen – beispielsweise in Form von (Denk-)Figuren, die allzu Bekanntes unvertraut werden lassen. Mit ebenjenem Denken von Ambivalenz, das zugleich die eigene Situiertheit befragt, ist erneut auf die Tradition der feministischen Anthropologie verwiesen.
Marilyn Strathern bezeichnete die Disziplinen von Feminismus und Anthropologie in einem 1987 erschienenen Artikel als „neighbors in tension“ [Nachbar*innen in Spannung] (Strathern 1987, 277). Sie beschreibt Konflikte und Reibungen, die in dieser Verknüpfung liegen und ausgehalten werden müssen, da sie sich weder auflösen noch synthetisieren lassen. Auf Grundlage ebenjener Methode, „geduldig im Schlamassel sitzen zu bleiben“ (115), baut Anna Lowenhaupt Tsings Text „Die Erde, vom Menschen belagert“ auf – einer weiteren Erst-Übersetzung im Sammelband. Mithilfe dreier „Lügengeschichten“ wird darin das „Anthropozän“ als komplexes Dilemma aufgeblättert – ein Dilemma, das sich zwischen diskriminierenden Ausschlüssen, strategischer Notwendigkeit und der Figur der Plantage bewegt. Was Tsing mit dieser Figur unvertraut werden lässt, sind die imperial eingefärbten Vereinfachungen, die in diesem popularisierten Begriff mitschwingen und denen im Strathern’schen Sinne mit Beharrlichkeit begegnet werden sollte.
Eine weitere Bezugsgröße des Bandes bildet Luce Irigaray und die Ambiguität des von ihr theoretisierten Spekulums. Ihre Texte werden in Frederike Nastolds Beitrag mit Haraway eng geführt, von Katrin Köppert in Dialog mit Édouard Glissants Begriff der Opazität gebracht und auch in Marie-Luise Angerers Beitrag aufgegriffen. Angerer gelangt darin zu einem Begriff des Begehrens bei Irigaray, der umweltlich-relational verstanden werden kann. Beispielhaft wird hierbei auf den Film „Annihilation“ verwiesen, der auf dem gleichnamigen Roman von Jeff VanderMeer basiert. Den darin auftretenden „Schimmer“ konzeptualisiert Angerer als Versuch, „eine Repräsentation im Sinne […] einer Vorstellung für unsichtbare und unverständliche Prozesse zu finden“ (105). Ein Schimmer also im Sinne umweltlich gewordener Spekula, die auf Verborgenes hinweisen und so Raum für ein anderes Denken von Zusammenhängen eröffnen. Damit sind auch die Komponenten jenes ökologisch-sympoietischen Denkens angesprochen, das in feministischer Theorie und Science Fiction unlängst Fuß fassen konnte.
Dass ebendieses vermeintlich universale Denken von Zusammenhängen nicht außerhalb der gesellschaftlichen Matrix von Geschlecht, ‚race‘ und Klasse gedacht werden kann, zeigt die von Noam Gramlich aufgeworfene Perspektive auf denselben Film. Darin geht es um die Darstellung von HeLa-Krebszellen und um die Person Henrietta Lacks, die hinter dem Kürzel steckt. Im Film wird Lacks zwar erwähnt, doch ihre Geschichte bleibt eine stumme. Diese Leerstelle steht laut Gramlich symptomatisch für eine weit umfassendere „koloniale Aphasie des Anthropozäns“ – so der Titel des Beitrags. Unter Einbezug der Lektüre von Kathryn Yusoff, bell hooks und Françoise Vergès setzt Gramlich spezifische Schwerpunkte, die entlang der Frage nach unsichtbar-gemachter kolonialer Gewalt verlaufen.
Mit dem Erzählen von ebenjenen klaffenden Leerstellen und von nicht-archivierten, weil unterdrückten Biografien in der westlich-kolonialen Geschichtsschreibung beschäftigt sich Laura Moisi in ihrem Beitrag zum Begriff der „Kritischen Fabulation“ von Saidiya Hartmann. Ein weiteres Register der Spekulation eröffnend, geht es in Moisis Text konkret um das Schreiben an den Rändern historiografischer Forschung. Anhand der archivierten Splitter, die Hartmann zur Biografie der „Venus“ zusammensucht, erörtert sie die Grenzen historischer Wissensgenerierung und ungleicher Deutungshoheit. In Anlehnung an Hartmanns Begriff wird Spekulation auch als Möglichkeit verstanden, an den Auslassungen des Archivs zu arbeiten, diese sichtbar zu machen und sich der narrativen Zurückhaltung zu entledigen, die solche Leerstellen umgibt: „Die kritische Fabulation ermöglicht es, das Affektiv-Imaginäre des Feminismus zu erweitern, um die ungehörten Stimmen und die nicht erzählten Geschichten als Teil eines Erbes zu begreifen, das in die Gegenwart fortwirkt“ (218).
Während Moisi jene Spekulation als eine gegenhegemoniale Praxis des Geschichtenerzählens entwirft, kommt Martina Leeker, die die Kritikfähigkeit in digitalen Kulturen behandelt, auf eine gänzlich andere Einschätzung. Sie versteht Spekulation eher als paranoide Reproduktion einer durch Kontrollmechanismen geregelten digitalen Sphäre. Anders gesagt, im Rahmen einer durch bedingungslose Konnektivität bestimmten digitalen Kultur ließe sich Spekulation der Kritik eben nur zur Seite stellen, da sie selbst bereits als Faktor maschinellen Lernens vereinnahmt wurde. Jener Spannung zwischen den Bedeutungsspielräumen von Spekulation, einerseits als Teil ökonomischer Wertschöpfung und andererseits als kritische Praxis, nimmt sich Georg Dickmann an. In Bezug auf Paul B. Preciados auto-theoretischen Text „Testo Junkie“ wird die Spekulation mit Körpern sowohl auf molekularer und materiell-semiotischer Ebene gelesen. Die Rolle, welche die Methode der Spekulation in diesem Text spielt, ist keine geringere als die der gegenhegemonialen Wiederaneignung technischer Körperoptimierungen. Der Autor macht darin die Bemerkung, dass ein feministischer Ansatz zu spekulativen Zukünften „als ein Vortasten zu definieren ist“ (178).
Ein Vortasten – das wäre auch ein schmeichelnder Begriff für das, was der Band „Feministisches Spekulieren“ leistet. Es ist jedoch zugleich mehr als ein Vortasten, sondern – im Sinne der „Tragetaschentheorie“ – ein Versammeln von in verschiedene Richtungen greifendem Denken, von einem Wiederlesen und -erzählen, das an jenen Punkten beginnt, – und an dieser Stelle leihe ich mir Annika Haasʼ Worte aus ihrem Beitrag zu Hélène Cixousʼ telepathischer Lesepraxis – „von denen man sich unhinterfragt sicher war, schon alles darüber zu wissen“ (94).
[1] Beispiele aus Berlin: die Film- und Diskussionsveranstaltung zu Donna Haraways „Storytelling for Earthly Survival“ während des MaerzMusik Festivals (21. März 2017), die Lecture Performance „MISSION ACCOMPLISHED: BELANCIEGE“ von Giorgi Gago Gagoshidze, Hito Steyerl und Miloš Trakilović im Neuen Berliner Kunstverein (21. November 2019) sowie die Veranstaltung „Carrier Bag Fiction“ im Haus der Kulturen der Welt mitsamt des von „diffrakt“ organisierten Workshops „Storytellings | Carrier Bag Theory“ (ursprünglich 19. März 2020, verschoben).
[2] Als „Die Tragetaschentheorie des Erzählens“ erschien der Text im selben Jahr auch im thinkOya-Verlag, siehe Ursula K. LeGuin (2020): „Am Anfang war der Beutel“. Klein Jasedow: thinkOya.
Fisher, Elizabeth (1979): Woman’s Creation. Sexual Evolution and the Shaping of Society. New York: McGraw-Hill.
Golde, Peggy (Hg.) (1970): Women in the Field – Anthropological Experiences. Chicago: Aldine Publishing Company.
Haraway, Donna J. (2016): Staying With the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham, London: Duke University Press. doi: 10.2307/j.ctv11cw25q.
Le Guin, Ursula K. (1996): The Carrier Bag Theory of Fiction. In: Glotfelty, Cheryll/Fromm, Harold (Hg.): The Ecocriticism Reader. Landmarks in Critical Ecology. Athen, London: The University of Georgia Press, 149–154.
Morgan, Elaine (1985): The Descent of Woman – The Classic Study of Evolution. [4., überarbeitete Neuauflage] London: Souvenir Press.
Reiter, Rayna R. (1975): Introduction. In: Reiter, Rayna (Hg.): Toward an Anthropology of Women. New York, London: Monthly Review Press, 11–19.
Rosaldo, Michelle Zimbalist/Lamphere, Louise (Hg.) (1974): Woman, Culture and Society. Stanford: Stanford University Press.
Strathern, Marilyn (1987): An Awkward Relationship: The Case of Feminism and Anthropology. In: Signs 12 (2), 276–292. doi: 10.1086/494321.