Open Gender Journal (2022) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Iris Julian
Rezensionen zu Denis Paul:
Hermaphroditismus und das Verständnis von Geschlecht. Der Diskurswandel um 1900.
Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag (2021).
282 Seiten, ISBN: 978-3-86321-596-5, € 44,95
In dieser Publikation recherchiert Denis Paul Diskurse zum Phänomen des Hermaphroditismus im deutschsprachigen Raum. Der untersuchte Zeithorizont reicht von 1870 bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Nachvollziehen von Forschungsparadigmen unterschiedlicher medizinischer und naturwissenschaftlicher Disziplinen sowie juristischer Rahmenbedingungen bringt Spannungsfelder zur Frage, wem ein Mitspracherecht zur Bestimmung des Geschlechts möglich ist, zum Vorschein. Paul macht deutlich, dass es durch die Vernaturwissenschaftlichung der Medizin im 19. Jahrhundert mitunter zu einer Ablösung des vorherrschenden Norm-Abnorm-Schemas kam. Im Zuge dessen begann das Phänomen des Hermaphroditismus um 1900 eine wesentliche Rolle in der Geschlechterfrage einzunehmen, ja es wurde sogar zum theoretischen Ansatzpunkt, um die zweigeschlechtliche Ordnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die als prekär erlebt wurde, zu stabilisieren.
Schlagworte: Androgynie, Hermaphroditismus, Intersexualität, Medizin
Zitationsvorschlag: Julian, Iris (2022): Außerhalb des bipolaren Rahmens der Geschlechter – Als Konzepte des Hermaphroditismus die Wahrnehmung der „Norm“ mitformten. Rezension zu Denis Paul (2021): Hermaphroditismus und das Verständnis von Geschlecht. In: Open Gender Journal 6. doi: 10.17169/ogj.2022.198.
Copyright: Iris Julian. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2022.198
Veröffentlicht am: 09.03.2022
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Nicht eindeutig als „Mann“ oder „Frau“ zuordenbare Menschen wurden durch die Jahrtausende jeweils sehr unterschiedlich wahrgenommen und theoretisiert: definiert sowohl als schillernde Erscheinung als auch als monströse Abnorm, göttlich verehrt in der Antike, zum Monster stilisiert in der Epoche der Renaissance, gänzlich geleugnet und als Hirngespinst der Vorzeit abgetan im 17. und 18. Jahrhundert. Mit Entstehung der modernen Wissenschaften wandelte sich im 19. Jahrhundert das Verständnis von Personen, die vorherrschende Raster der Geschlechtsdifferenzierung überschritten. Das Sammeln von Fallstudien und deren Einordnung entlang von Entwicklungslinien, die auf Basis phylo- und ontogenetischer Modelle konzipiert wurden, führte schließlich dazu, dass Hermaphroditismus von Forschern als Urform aller Geschlechtlichkeit theoretisiert wurde. Das Phänomen des Hermaphroditismus, so lautete die Vermutung dieser Zeit, könnte die Frage nach dem „wahren Geschlecht“ klären. Mit der Theoretikerin Judith Butler gesprochen, stellt sich dieses Unterfangen als durchaus heikle Operation dar, denn Identität werde durch die stabilisierenden Konzepte Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Sexualität abgesichert und somit würden diskontinuierlich geschlechtlich bestimmte Wesen den Begriff der Person qua Existenz infrage stellen (vgl. Butler 1991, 38).
Der Autor, Dr. med. Denis Paul, ist Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie und arbeitet in Stuttgart u.a. als Suchtmediziner und Sexualtherapeut, wobei sein theoretischer und praktischer Schwerpunkt auf Geschlechtsinkongruenz sowie Trans- und Intergeschlechtlichkeit liegt. In der vorliegenden Arbeit entfaltet er ein Spannungsfeld zwischen einzelnen Personen, deren Körper den zweigeschlechtlichen Rahmen des Intelligiblen und Kategorisierbaren transzendieren, und einer auf essentialistischer Geschlechtsbinarität basierenden Gesellschaft. Als Kulturwissenschaftlerin werde ich die Arbeit im Hinblick auf die von Paul forschungsleitend angewandten diskursanalytischen Perspektiven und Verfahren diskutieren.
Mit seinem medizinhistorischen Zugang zur Intersexualitäts- und Geschlechterforschung stellt Paul detailreich den Diskurs um Hermaphroditismus im Zeitabschnitt zwischen 1870 und 1930 vor. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf dem deutschsprachigen Raum, mit punktuellen Vergleichen zu England, Frankreich und den ehemaligen Einflussbereichen der K.-u.-k.-Monarchie. Als Quellen dienen ihm vor allem von Medizinern und Naturwissenschaftlern verfasste Publikationen sowie Artikel in Fachzeitungen. Der recherchierte historische Abriss macht zunächst die Vielfalt der wissenschaftlichen Richtungen deutlich. An die Stelle eines dichten metaphysischen Bezugssystems war mit der Ausrichtung der Medizin hin zu den Naturwissenschaften im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine Hinwendung zu Fallstudien getreten. Die Körper von Betroffenen wurden zunächst im Hinblick auf deren äußere und schließlich innere Anatomie entsprechend einer Zwei-Geschlechter-Ordnung kartografiert. Ausgehend von der Anatomie, die im 19. Jahrhundert noch maßgeblich zur Geschlechtsbestimmung herangezogen wurde, sowie der Pathologie und der Teratologie erweiterten sich die Forschungsrichtungen im Laufe des 19. Jahrhunderts, wurden von neuen Richtungen überlagert, wie der Endokrinologie oder der mit der Neurologie in einem Spannungsverhältnis stehenden Sexualwissenschaft. Der Autor skizziert zudem die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Vererbungslehren sich etablierende Eugenik und deren Vereinnahmung von einem nationalsozialistischen und rassistischen Denken.
Diese medizinisch-naturwissenschaftlichen Diskurse werden von Paul auch in Zusammenschau mit Justiz und Theologie reflektiert, zwei institutionalisierten Einflusssphären, die über viele Jahrhunderte ein Mitspracherecht zur Bestimmung des Personenstandes hatten. Wie er hervorhebt, kamen ab Ende des 19. Jahrhunderts Geschlechtszuweisungen gänzlich in den Einflussbereich der Medizin. Den Betroffenen selbst wurde, etwa mit dem im Jahre 1875 in Kraft getretenen Reichsgesetz, das Selbstbestimmungsrecht entzogen.
Dem nachgerade explosionsartigen Wuchern von Publikationen um 1900 zur Frage des Hermaphroditismus möchte der Autor mit einer Kombination diskursanalytischer und medizinhistorischer Perspektiven begegnen. An den Soziologen Stefan Hirschauer anschließend verfolgt er die forschungsleitende Annahme, dass Zweigeschlechtlichkeit nicht als eine konstante Größe, sondern als Variable zu betrachten sei. Phänomene, die als Hermaphroditismus und seit dem 20. Jahrhundert synonym als Intersexualität gefasst werden, sind demnach als ein labiles Konstrukt zu verstehen, das jeweils durch soziale Praktiken generiert, de- und rekonstruiert wird. Eine weitere Perspektive entwickelt der Autor ausgehend von Forschungen des Soziologen Bruno Latour zu wissenschaftlichen Laboren. Darauf aufbauend formuliert Paul die Frage, auf welche Weise bestimmte medizinisch-naturwissenschaftliche Diskurse erst durch im Labor künstlich hergestellte Lebendexperimente entstehen konnten. Als dritte Einflussquelle seiner Studie schließlich nennt Paul diskursanalytische Verfahren, wobei er – Michel Foucault und dessen Konzept des Dispositivs aufgreifend – vor allem auch an den Historiker Achim Landwehr anschließt.
Die Publikation, die als Dissertation an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen worden und 2021 beim Mabuse-Verlag in Frankfurt am Main erschienen ist, folgt in ihrem Aufbau einer gängigen, zwischen Fragestellung, Methode, Forschungsstand und Ergebnis differenzierenden Einteilung. Als Forschungsstand benennt der Autor die Intersexualitäts- und Geschlechterforschung des europäischen Raums, etwa eine von Alice Dormurat Dreger publizierte Studie: Ihrer Annahme, dass Forscher des 19. Jahrhunderts ein von Personen uneindeutigen Geschlechts ausgehendes Störungspotenzial durch regulierende Verfahren zu eliminieren suchten, hält Paul seinerseits entgegen, dass der medizinische Diskurs im deutschsprachigen Raum in jenem Zeitabschnitt die Wahrnehmungsraster potenziell ausgeweitet habe. In dieser Hinsicht orientiert er sich an einer von Myriam Spörri publizierten Arbeit, in der sie den Übergang von makroskopischen zu mikroskopischen Untersuchungsverfahren erforscht, um darzulegen, auf welche Weise das Konzept des Hermaphroditismus zur Auffaltung medizinischer Wahrnehmungsraster herangezogen wurde. Erst vor dem Hintergrund des Interesses am Hermaphroditismus, so ihr Argument, wurden Konzepte wie das der Bisexualität und Homosexualität hervorgebracht.
Im Hinblick auf einen größeren gesellschaftspolitischen Horizont bezieht sich Paul auf eine von Heiko Stoff veröffentlichte Studie: Gesellschaftliche Umwälzungen im Zuge der Industriellen Revolution, wie etwa die Auflösung von Haushalten und Kernfamilien, und damit einhergehende Entartungsängste diskutiert er in ihrer Rückwirkung auf das Raster essentialistisch verstandener Geschlechtsbinarität. Warum Paul jedoch die 2010 erschienene Forschungsarbeit der Historikerin Ulrike Klöppel unerwähnt lässt, erschließt sich mir nicht (Klöppel 2010): Klöppel hat mit ihrer 700 Seiten umfassenden Arbeit ein Standardwerk zur Geschichte des Hermaphroditismus vorgelegt. Zwar entwickelt sie eine psychosexuelle Perspektive, dennoch finden sich zahlreiche Überschneidungen der beiden Autor*innen, die zu einer ergänzenden Diskussion eingeladen hätten.
In Bezug auf die Struktur der vorliegenden Arbeit sind an gewissen Stellen Uneindeutigkeiten feststellbar: So erklärt sich nicht, warum dem im 19. Jahrhundert tätigen Pathologen Edwin Klebs ein Hauptkapitel gewidmet wurde, während Forschungen des Gynäkologen Josef Halban und des Biologen Richard Goldschmidt, die Paul als zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichbar einflussreich skizziert, auf Unterkapitel verwiesen werden. Abgesehen davon vermittelt die Publikation eine klare medizinhistorische Chronologie: Wie Paul schreibt, wurde im 17. und 18. Jahrhundert die Existenz hermaphroditischer und zwischengeschlechtlicher Wesen prinzipiell geleugnet. Ein Paradigmenwechsel zu Geschlechterfragen, im Zuge dessen Hermaphroditismus wahrgenommen und theoretisiert wurde, begann sich erst ab dem frühen 19. Jahrhundert abzuzeichnen. Das anatomische Geschlechtsverständnis wurde dabei von der sogenannten Keimdrüsen- oder Gonadentheorie abgelöst, als deren prominentester Vertreter Klebs zu nennen ist. Das von ihm entwickelte klassifikatorische System sollte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmend sein.
Die Hervorhebung von Klebs’ Position im Inhaltsverzeichnis könnte sich eventuell damit erklären, dass sich dessen Forschungen für Pauls Argumentationsstrang als maßgeblich erweisen. Denn die Einbindung der Keimdrüsentheorie in phylo- und ontogenetische Modelle ließ den vormals als Missbildung wahrgenommenen Hermaphroditismus entlang eines Entwicklungsprozesses erscheinen. Das führte schließlich dazu, dass Zwischengeschlechtlichkeit als Urform jeglicher Geschlechtlichkeit theoretisiert wurde. Anders formuliert: Es wurde sogar vermutet, dass alle Personen – selbst der Norm entsprechende, als „Mann“ und „Frau“ kategorisierbare – im Mutterleib ein hermaphroditisches Stadium durchlaufen hatten. Vor diesem Hintergrund konnte die den Diskurs beherrschende implizite Zwei-Geschlechter-Norm zugunsten eines Modells, das ein Kontinuum der Geschlechtlichkeit annahm, erweitert werden.
Wie der Autor schreibt, bewirkte mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Durchsetzung des genetisch-hormonalen Modells abermals ein Umdenken: Hermaphroditische Erscheinungen stellten für die Gesellschaft keine Bedrohung mehr dar, da die Wissenschaft Hormontherapien anbieten konnte, womit eine Regulierbarkeit im Sinne eines Zwei-Geschlechter-Modells gegeben war. Das heißt, die Existenz real existierender, intersexueller Personen wurde zwar weiterhin theoretisiert, jedoch verortet Paul bereits in dieser Zeit eine Verhärtung des epistemologisch bipolaren, mit den Kategorien „männlich/weiblich“ operierenden Rahmens. Der Autor schließt seinen Abriss mit einem Ausblick auf das Zusammenwirken mit einem nationalsozialistischen Gedankengut: Hermaphroditismus wurde abermals als „Degenerationsform“ pejorativ wahrgenommen und – mit fatalen Folgen – vor allem im Bereich der Eugenik ausformuliert.
Die große Stärke der Publikation, nämlich die detailreiche Materialsammlung, generiert mitunter Schwachstellen, denn vor dem Hintergrund dieser Fülle wird die von Paul eingangs angekündigte Diskursanalyse von Erläuterungen überlagert, die nebensächlich bleiben, da sie in keinen Argumentationsstrang eingegliedert werden. Als Folge davon verliert sich die fokussierende Fragestellung nach der Ausweitung des Norm-Abnorm-Schemas immer wieder. Zudem hätten, auf Basis der Denkfigur des „Labors“, wie diese Latour ausformulierte (Latour 2002, 119–131), weitere Untersuchungsraster erarbeitet werden können – ich denke dabei etwa an die Diskussion des Standortes einer Universität oder Forschungseinrichtung. An die Stelle von Divergenzen einzelner Disziplinen tritt somit tendenziell eine glatte medizinhistorische Chronologie, was auch dazu führt, dass der Terminus „Macht“ keine Kontur gewinnen kann und etwas undefiniert Schwebendes beibehält. Eine zweite Anmerkung betrifft die sprachliche Ebene: Nach meinem Dafürhalten drückt Pauls Wortwahl mitunter die Wahrnehmung von Geschlechtlichkeit als Effekt eines variablen und veränderbaren Denkens nicht aus. So operiert er mit Begriffen wie ‚Normalität‘, ohne eine kritische Distanz einzunehmen, was etwa durch ein Setzen in Anführungszeichen möglich gewesen wäre.
Wird die Publikation vor dem Hintergrund diskursanalytischer Perspektiven betrachtet, ist positiv hervorzuheben, dass eine nicht mit dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Spezialdiskurs vertraute Person präzise zu den einzelnen Problemfeldern hingeführt wird. Dem Autor gelingt es, durch die Zusammenfassung medizinhistorischer Entwicklungen ein Verständnis zu vermitteln, das für die Spezifizität der einzelnen Diskurse hellhörig macht. Auch ein direkter Vergleich mit Klöppels Studie zur Geschichte des Hermaphroditismus lässt Pauls Fragestellung als durchaus innovativ erscheinen: Die potenzielle Öffnung des a priori bestimmenden Paradigmas der Zweigeschlechtlichkeit, wie diese durch medizinisch-naturwissenschaftliche Forschungen ermöglicht wurde, etwa durch Theoretisierung sexueller Differenz entlang eines geschlechtlichen Kontinuum-Modells, erhält bei Paul tendenziell mehr Gewicht als in Klöppels Studie. Daher erscheint mir die vorliegende Arbeit als Übersicht zur Vielfalt medizinisch-naturwissenschaftlicher Theorien und Methoden der Zeit zwischen 1870 und 1930 empfehlenswert.
Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Klöppel, Ulrike (2010): XXoXY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld: transcript. doi: doi.org/10.1515/9783839413432.
Latour, Bruno (2002): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.