Open Gender Journal (2022) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Systematisierung von Geschlecht oder Systematisierung von Schule?

Rezension von Johanna M. Pangritz


Rezensionen zu Lydia Jenderek: Geschlechterbewusste Pädagogik in der Praxis. Eine wissenschaftssoziologische Rekonstruktion diskursiver Deutungsmuster.
Opladen, Berlin & Toronto: Verlag Barbara Budrich 2021
160 Seiten, ISBN: 9783847424758, 24,90 €


Abstract

Die Thematisierung oder Verhandlung von Geschlecht am Beispiel der geschlechterbewussten Pädagogik wird seit Jahren innerhalb der Erziehungswissenschaft breit und zum Teil auch kritisch diskutiert. Dabei zeigt sich unter anderem, dass keine Einigkeit bezüglich des Verständnisses von Geschlecht und daran anknüpfend des ‚angemessenen‘ Umgangs mit Geschlecht und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten herrscht. Lydia Jenderek befasst sich mit genau diesem Diskurs und rekonstruiert entlang von primär problemzentrierten Interviews mit Lehrkräften, welche Verhandlungen von geschlechterbewusster Pädagogik im Feld der Schule stattfinden. Dabei kann Jenderek eindrücklich mit Hilfe der wissenssoziologischen Diskursanalyse aufzeigen, dass nicht nur differierende Positionierungen hinsichtlich Geschlecht leitend sind, sondern dass geschlechterbewusste Pädagogik zu einem individuellen Thema der Lehrkräfte wird, die somit als wesentlicher Faktor bei der Umsetzung zu verstehen sind.

Schlagworte: Pädagogik, Schule, Diskurs

Zitationsvorschlag: Pangritz, Johanna M. (2022): Systematisierung von Geschlecht oder Systematisierung von Schule? Rezension zu Lydia Jenderek (2021): Geschlechterbewusste Pädagogik in der Praxis. Eine wissenschaftssoziologische Rekonstruktion diskursiver Deutungsmuster. In: Open Gender Journal 6. doi: 10.17169/ogj.2022.202.

Copyright: Johanna M. Pangritz. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: https://doi.org/10.17169/ogj.2022.202

Veröffentlicht am: 18.10.2022

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Schule als Genderregime

Die Aus- und Verhandlung von Geschlecht im Feld der Bildung, wie beispielsweise der Schule, zeigt seit Jahrzehnten eine sehr rege und gleichzeitig widersprüchliche und kontroverse Diskussion. Vor allem an der Debatte um Jungen als sogenannte ‚Bildungsverlierer‘ (vgl. beispielsweise Fegter 2012) kann eindrücklich verdeutlicht werden, dass zum einen kein Konsens hinsichtlich des Verständnisses von Geschlecht und darauf aufbauend keine Einigkeit im professionellen Umgang mit Geschlecht und daraus entstehenden Ungleichheiten besteht. Nach wie vor wird im Feld Schule darüber gestritten, ob bestimmte Verhaltensweisen von Jungen als Folge biologischer Anlagen zu verstehen sind oder als Produkt sozial hergestellter Männlichkeitsvorstellungen. Zudem wird fortwährend darüber diskutiert, ob Männer als Fachkräfte die Lösung für die vermeintliche Ungleichbehandlung von Jungen darstellen, indem sie alternative Männlichkeitsvorbilder schaffen (vgl. Diewald 2018, Rose/May 2014).

Entlang diametraler Positionen zu Geschlecht und widersprüchlicher pädagogischer Handlungsstrategien zeigt sich am Beispiel von ‚Jungen‘ sowie von ‚Männern‘ als Fachkräften, dass im Feld der geschlechterbewussten Pädagogik – im Handlungsfeld Schule – trotz intensiver Auseinandersetzung nach wie vor ganz unterschiedliche Perspektiven im Diskurs um geschlechterbewusste Pädagogik eingenommen werden. Empirisch wurde sich diesem Diskurs bisher nur wenig genähert. Lydia Jenderek widmet sich nun in dem Buch „Geschlechterbewusste Pädagogik in der Praxis – Eine wissenssoziologische Rekonstruktion diskursiver Deutungsmuster“ der Fragestellung, „wie geschlechterbewusste Pädagogik auf schulischer Ebene verhandelt wird.“ (S. 12) Der Band ist die Veröffentlichung einer Dissertation, die an der Universität Paderborn eingereicht wurde.

Verortung und forschungsmethodische Ausrichtung

Die Forschungsarbeit kann im expliziten Sinne als Forschungsarbeit verstanden werden. Anstelle einer ‚klassischen‘ Darstellung bisheriger theoretischer und begrifflicher Zugänge beginnt die Arbeit mit zwei Vorstudien, die das Thema und den theoretischen Hintergrund sowie das anschließende weitere methodische Vorgehen begründen. In der ersten werden die grundlegenden Begriffe in der Fachsprache schulpädagogischer Veröffentlichungen analysiert, wie beispielsweise geschlechterbewusste, geschlechtersensible oder geschlechterbezogene Pädagogik. Dabei kristallisiert Jenderek heraus, dass keine systematische Verwendung der Begrifflichkeiten stattfindet. In Anlehnung an Kleinau und Rendtorff (2013) verweisen die Ergebnisse darauf, dass es sich hier vielmehr um „Eimerbegriffe“ handelt, die durch ihre unklare und ungenaue Verwendung Raum für Alltagstheorien lassen (S. 39). Nur hinsichtlich des Begriffes geschlechterbewusste Pädagogik identifiziert Jenderek Überschneidungen im Verständnis: Sie lassen jene als innere Haltung von Pädagog:innen zu Geschlecht erkennen (vgl. S. 43f.).

Die zweite Vorstudie widmet sich der Implementierung von geschlechterunterscheidenden Materialien in der Schule. Dafür werden Werbebroschüren und Flyer für Schulmaterialien für die Fächer Deutsch und Physik in der Sekundarstufe 1 hinsichtlich Geschlecht untersucht. Zudem werden Expert:inneninterviews mit Lehrkräften geführt. Beide Datenquellen werden mit der wissenssoziologischen Diskursanalyse ausgewertet. Unklar bleibt hier jedoch, was genau diese Vorstudie von der Hauptstudie abgrenzt, da methodisches Vorgehen und inhaltlicher Blickwinkel sehr ähnlich sind. Zwar wird innerhalb der Einleitung darauf verwiesen, dass es sich bei den Studienteilnehmer:innen in der Vorstudie allgemein um Lehrkräfte, in der Haupterhebung dagegen um geschlechterbewusste Lehrer:innen handelt, jedoch wird nicht vollends nachvollziehbar dargelegt, wieso eine weitere Erhebung als wichtig und notwendig erachtet wurde. Die Ergebnisse dieser Studie bekräftigen die in der ersten Vorstudie aufgestellte These: Wie bereits an dem Begriff der geschlechterbewussten Pädagogik erkennbar war, weisen auch diese Befunde auf einen „Trend zur Individualisierung“ (S. 50) hin: Die Verantwortung, welchen Stellenwert und Relevanz Geschlecht als Teil professionellen Handelns einnimmt, übernehmen die Lehrkräfte für sich selbst.

Schule wird so als nicht neutraler Ort erkennbar, in dem persönliche und professionelle Einstellungen mit strukturellen Rahmungen zusammenspielen. Mit Bezug auf Geschlecht wird Schule so als „Genderregime“ (vgl. Jäckle 2011) erkennbar. Sie ist hier dadurch charakterisiert, dass sie zum einen spezifische Wissensgehalte zu Geschlecht hervorbringt und mitkonstruiert sowie zum anderen in bestehende Machtverhältnisse eingelassen ist.

Um gesellschaftliche Macht- und Wissensstrukturen in den Blick zu bekommen und Lehrkräfte als Subjekte zu begreifen, die zugleich als Produkt eben dieser Machtstrukturen verstanden werden können, fällt die Entscheidung für eine poststrukturalistische Fundierung. Dafür greift Jenderek auf Foucaults Begriffe von Macht, Wissen und Diskurs zurück und erweitert die theoretische Perspektive noch um Butlers Subjektbegriff in Verbindung mit Geschlecht (mit zusätzlichen Ergänzungen von Susanne Maurer) sowie um die Annahmen zu intersubjektiven Prozessen nach Berger und Luckmann. Bei der Darstellung der jeweiligen theoretischen Perspektiven wird konsequent auf die erziehungswissenschaftliche Rück- bzw. Einbindung geachtet und entlang wesentlicher Auseinandersetzungen die Relevanz für diese Disziplin beschrieben. Dies ist meines Erachtens eine besondere Stärke der Arbeit: Durch ihren Fokus auf Geschlecht ist sie zwar interdisziplinär ausgerichtet, im theoretischen Rahmen wird jedoch die erziehungswissenschaftliche Relevanz der Theorie sehr eindrücklich dargelegt.

Als Datenfundus dienen problemzentrierte Interviews mit 16 Lehrkräften, die zudem in Bezug zu den schulpädagogischen Publikationen der ersten Vorstudie gesetzt werden. Über die gemeinsame Auswertungsmethode der „Wissenssoziologischen Diskursanalyse“ (Keller 2007, 2011) werden beide Datenquellen in Beziehung zueinander gesetzt und eine Verknüpfung zweier Ebenen (öffentliche Debatte vs. schulpädagogische Praxis) gewährleistet. Somit können „die Strukturen der Diskurse möglichst umfassend“ (S. 84) rekonstruiert werden. Auch an dieser Stelle erscheint mir das methodische Vorgehen etwas undurchsichtig. Hier hätte ich mir mehr methodologische und methodische Hinweise und Ausführungen gewünscht, die das vernetzte methodische Vorgehen nachvollziehbarer machen.

Geschlechterbewusste Pädagogik als Individualisierungstendenz

Im Gegensatz zur grundlegenden Annahme, dass sich geschlechterbewusste Pädagogik an ihren Adressat:innen ausrichtet, zeigt Jenderek mit der Analyse, dass vor allem die individuelle Einstellung der Lehrer:innen zum Thema ausschlaggebend für eine geschlechtersensible bzw. geschlechterbewusste Perspektive ist. So werden aus dem Material vier Typen („menschenbewusste Pädagogik“, „jungenfokussierte Pädagogik“, „mädchenfokussierte Pädagogik“ und „Selbstverwirklichungs-Projekt“) abgeleitet, die sich jeweils in ihrer Einstellung und anschließend ihrem Handlungsauftrag zu Geschlecht unterscheiden. Diese Erkenntnis wird auch durch die Analyse der pädagogischen Literatur gestützt.

Dieser Befund ist auf unterschiedliche Weise für die (erziehungswissenschaftliche) Geschlechterforschung relevant, da damit aufgezeigt wird, dass der professionelle Handlungsauftrag für Lehrkräfte im Bereich Schule, der eben auch durch die Herstellung von Partizipationsmöglichkeiten und daran anschließend den Abbau von Bildungsungleichheit entlang von Geschlecht gekennzeichnet ist, als individueller und nicht als kollektiver Handlungsauftrag verstanden werden kann. Erstaunlich bei der Analyse erscheint, dass ein Typus die Durchführung geschlechterbewusster Pädagogik als Art ‚Selbstverwirklichung‘ begreift, wobei hier besonders die Diskrepanz zu Debatten der Profession und Professionalisierung im Bereich Schule, aber auch für andere pädagogische Handlungsfelder, deutlich wird. Ebenfalls zeigt sich eine ambivalente Aushandlung geschlechterbewusster ‚Pädagogiken‘ entlang von ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘, die ein vertieftes Verständnis hinsichtlich der eingangs kurz erwähnten Debatten um ‚Jungen als neue Bildungsverlierer‘ und ‚mehr Männer‘ im Bereich der Erziehung und Bildung ermöglichen.

Fazit

Die Arbeit bearbeitet grundlegend eine lange bestehende Forschungslücke, indem sie sich der Verhandlung geschlechterbewusster Pädagogik nähert. Die stark forschungsmethodische Ausrichtung, die einen sehr guten Einblick in unterschiedliche Verhandlungsebenen zur geschlechterbewussten Pädagogik ermöglicht, schwächt meines Erachtens gleichzeitig an mancher Stelle die Nachvollziehbarkeit. Tatsächlich blieb mir bis zum Schluss unklar, ob alle Studien ‚notwendig‘ gewesen wären. Zu Beginn erscheinen die verschiedenen Studien klar voneinander abgegrenzt, in der Haupterhebung verschwimmen die Grenzen jedoch, und es wird auch eine vorherige Vorstudie zur Hauptauswertung hinzugezogen. Eine ausführlichere Darstellung des vernetzten Vorgehens wäre nicht nur hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit wünschenswert gewesen, sondern auch aus methodischer Sicht interessant. Jenderek weist zwar zu Beginn darauf hin, dass nicht alle Analyseschritte transparent gemacht werden können, tatsächlich hätte ich mir jedoch den einen oder anderen Zwischenschritt gewünscht.

Generell halte ich die Arbeit von Lydia Jenderek jedoch für unbedingt lesenswert für alle, die sich im Feld der geschlechterbewussten Pädagogik bewegen, sei als Wissenschaftler:in oder als Praktiker:in. Denn Jenderek gelingt es an verschiedenen Stellen und mit unterschiedlichen Datenmaterialen und somit Zugängen außerordentlich gut, auf grundlegende Probleme und Herausforderungen zu verweisen, die dann auch empirisch dargestellt und begründet werden. Auch wenn das am Ende der Arbeit nicht stark betont wird – mit dieser Diskursanalyse legt Jenderek wichtige Ausgangspunkte für weitere theoretische sowie empirische Auseinandersetzungen im Feld der geschlechterbewussten Pädagogik. Zudem lassen die Erkenntnisse auch einen klaren Auftrag für die pädagogische Praxis erkennen, beispielsweise für die Schul- oder die pädagogische Professionsforschung, weshalb ich gerne mehr dazu mehr gelesen hätte.

Literatur

Diewald, Irmgard (2018): Männlichkeiten im Wandel. Zur Regierung von Geschlecht in der deutschen und schwedischen Debatte um ‚Männer in Kitas’. Bielefeld: Transcript Verlag. doi: 10.14361/9783839444320

Fegter, Susann (2012): Die Krise der Jungen in Erziehung und Bildung. Diskursive Konstruktion von Geschlecht und Männlichkeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. doi: 10.1007/978-3-531-19132-4

Keller, Reiner (2007): Diskurse und Dispositive analysieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Beitrag zu einer wissensanalytischen Profilierung der Diskursforschung. In: Forum Qualitative Sozialforschung 8 (2), Art. 19. doi: 10.17169/fqs-8.2.243

Keller, Reiner (2011): Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. doi: 10.1007/978-3-531-93340-5

Kleinau, Elke/Rendtorff, Barbara (Hg.) (2013): Differenz, Diversität und Heterogenität in erziehungswissenschaftlichen Diskursen. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.

Jäckle, Monika (2011): Subjektivationsprozesse im Geschlechterregime Schule. Skizze einer (poststrukturalistischen) Dispositivanalyse. In: Gender und Schule. Konstruktionsprozesse im schulischen Alltag (Bulletin Texte 37). Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) der HU Berlin, 32 – 55.

Rose, Lotte/May, Michael (Hg.) (2014): Mehr Männer in die Soziale Arbeit!? Kontroversen, Konflikte und Konkurrenzen. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.