Open Gender Journal (2022) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Sarah Sandelbaum
Rezensionen zu Elizabeth A. Wilson: Eingeweide, Pillen, Feminismus.
Übersetzung von Herwig Engelmann.
Zürich: Edition Patrick Frey 2022
451 S., ISBN: 9783907236369, 12,00 €
Englische Originalausgabe: „Gut Feminism“, Duke University Press 2015
Elizabeth Wilsons 2015 erschienene Publikation „Gut Feminism“ liegt seit diesem Jahr nun auf Deutsch vor. In Rückgriff auf empirische Daten aus den Neurowissenschaften, auf Psychoanalyse und Dekonstruktion reformuliert sie nicht nur ihre langjährige Beschäftigung mit dem biologischen Körper, mit Depressionen und deren pharmazeutischer Behandlung, sondern schlägt vor, feministische Politik soll „radikal negativ“ sein und ihr eigenes schädigendes Potenzial annehmen. Wilson fordert damit nicht nur die bisherigen „affirmativen“ bzw. „reparativen“ Lesarten feministischer Neomaterialismen heraus, sondern betont (unbewusste) Aggressionen, Verlust und Schaden in der „reparativen Wende“ der Queer Theory.
Schlagworte: Affekt, Queer Theory, Depression, Psychoanalyse
Zitationsvorschlag: Sandelbaum, Sarah (2022): How to Do Things with Aggressions? Rezension zu Elizabeth A. Wilson (2022): Eingeweide, Pillen, Feminismus. In: Open Gender Journal 6. doi: 10.17169/ogj.2022.203.
Copyright: Sarah Sandelbaum. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2022.203
Veröffentlicht am: 08.06.2022
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Seit Ende der 1990er Jahre plädiert Elizabeth Wilson für den Einsatz von empirischen Daten aus der klinischen Medizin, Psychiatrie und Psychologie in der feministischen Theorie und kritisiert deren „antibiologische“ Tendenzen (vgl. auch Wilson 1998, 2004). In „Eingeweide, Pillen, Feminismus“ greift Wilson diese These im Rahmen ihrer Beschäftigung mit der pharmazeutischen Behandlung von Depressionen erneut auf und ergänzt sie um psychoanalytische Überlegungen zu Aggression, Hass und Feindseligkeit. Mit dieser Perspektive verkompliziert sie nicht nur die bisherigen hauptsächlich „affirmativen“ und „reparativen“ Lesarten der Neuen Materialismen bzw. feministischen Neomaterialismen (vgl. Coole/Frost 2010; Bargetz 2019; Bargetz/Sanos 2020), sondern schreibt sich auf originelle Weise auch in die „reparative Wende“ in der Queer Theory ein (S. 409ff.). Dass sie mit dieser Perspektive im deutschsprachigen Raum bisher kaum Berücksichtigung findet, motiviert und begründet die vorliegende Besprechung der Übersetzung.
Eve Kosofsky Sedgwick warf Anfang der 2000er Jahre selbstkritisch und rückblickend auf die eigenen Arbeiten die Frage auf, was eine weniger „paranoide“ queere und feministische Wissensproduktion wäre, die nicht nur darauf abzielt, heteronormative und sexistische Strukturen aufzudecken, sondern die sich auch überraschen lässt, ihrem Gegenstand gegenüber offenbleibt und unterschiedliche Perspektiven billigt. Sedgwick deutet in diesem Artikel nur an, was diese „reparativen“ „kognitiven/affektiven Wissenspraktiken“ (Sedgwick 2003, 126) sein könnten. In den letzten Jahren entspann sich daher eine lebendige Diskussion um die epistemologischen bzw. methodologischen Annahmen kritischer Theorien, also u. a. auch darum, wie Lese-, Interpretations-, und Schreibpraktiken ihre Gegenstände formen, welche Affekte dabei dominieren und welche affektive Wirkung sie auch bei den Leser*innen entfalten. Was die Diskussion um die „paranoiden“ und „reparativen“ Praktiken oftmals ausblendet: Sedgwick selbst skizziert die beiden von Melanie Klein gewonnenen Modi nicht als zwei sich ausschließende Pole, sondern als zwar zwei verschiedene, aber sich ergänzende, gar voneinander abhängige „Positionen“ gegenüber einem Gegenstand (vgl. auch Barad 2015, 200f.; Bargetz/Sanos 2020). Für die Auseinandersetzung mit Wilsons Vorschlag in „Eingeweide, Pillen, Feminismus“ ist zentral, dass Sedgwick zufolge beide den gleichen gesellschaftlichen Verhältnissen entspringen. Sie verfügen daher auch beide über die gleiche „pessimistische Grundstimmung“ (Sedgwick 2003, 138) – sie gehen nur unterschiedlich mit ihr um. Im Gegensatz zu den „paranoiden“ Wissenspraktiken, die versuchen Schmerz zu verhindern, indem sie ihn durch ihren ‚Misstrauensvorschuss‘, durch Praktiken des Entlarvens und der Entmystifizierung antizipieren, gestalten „reparative“ Wissenspraktiken eine Umgebung, in der man Schutz, Liebe und Freude finden kann.
In dem vorliegenden Buch bilden Sedgwicks Überlegungen die zentrale argumentative Klammer; analog fragt Wilson: Kann eine feministische Wissensproduktion weniger misstrauisch gegenüber biologischen Daten sein, um eine „reparativere“ Haltung gegenüber Antidepressiva zu erlauben? Wilsons Ziel ist es weniger, die antibiologischen Tendenzen feministischer Theorie zu „entlarven“ oder vorzuführen, sondern – mithilfe einer detaillierten Beschäftigung mit Biologie – Neugier zu wecken auf neurowissenschaftliches, biologisches und organisches Wissen (S. 99). Dafür ist es der Autorin zufolge aber notwendig, auch negative, aggressive Affekte, Verlust und Schaden anzuerkennen.
Der erste Teil „Feministische Theorie“ umfasst drei Kapitel, die grundlegend das Ontologie- und Politikverständnis Wilsons „Gut feminism“ zeichnen. Im ersten Kapitel widmet sich Wilson zunächst den Folgen einer „paranoiden“ Lektüre von Biologie für feministische Theorie. Beispielhaft legt sie in ihrer Diskussion von Gayle Rubins berühmten Text „Thinking Sex“ da, wie sich dort ein statischer und analytisch unbrauchbarer Biologiebegriff abzeichnet. Rubin imaginiere biologische Materie als eine Bedrohung, als „souveräne“, „unbeugsame“ und „tyrannische“ „juridische Macht“, die von feministischer Theorie gestürzt werden müsse (S. 79). Von einem solchen „paranoiden“ Biologieverständnis hänge nun aber die Identität feministischer Theorie und Politik ab, und in ihm gründe ihre Autorität. Die Autorin schlägt daher ergänzend ein „reparatives“ Biologieverständnis vor:
„Eine Möglichkeit, dem Vorwurf zu begegnen, dass der Feminismus erst durch seine Ablehnung der Biologie schlau geworden ist, wäre ein vermehrtes Interesse für die Trümmer, die unsere raffinierte feministische Theorie hinter sich gelassen hat: das Konkrete, das Einfache und Unmittelbare, das Schlichte.“ (S. 99)
Was eine solche „reparative“ Lesart von Biologie sein könnte, arbeitet Wilson zunächst mit Melanie Klein und im darauffolgenden Kapitel mit Sándor Ferenczis Begriff des „biologischen Unbewussten“ heraus. Beiden Autor*innen sei die Vorstellung gemein, dass organische Materie – Eingeweide in der Brust-, Becken- und Bauchhöhle – über „psychische Kräfte“ verfügt und befähigt ist zu „Lust und Zerstörung, zum Wunschausdruck und zu anspruchsvollem Denken“ (S. 143). Organe fühlen und denken, sprechen und kommunizieren miteinander; psychische und körperliche Zustände, Vorstellungskraft und Eingeweide sind miteinander verschränkt und stehen in einer Beziehung gegenseitiger Verpflichtung. Der biologische Körper ist „phantasmatisch“ und daher, so Wilson, weitaus weniger rational (zu verstehen), als es die klinische Forschung zulässt. In den widersprüchlichen empirischen Daten zur pharmazeutischen Behandlung von Essstörungen manifestiere sich daher jenes eigenwillige „biologische Unbewusste“, das sich einer kausalen Logik und eindeutigen Deutung entzieht.
Im dritten Kapitel „Bittere Melancholie“, das als einziges Kapitel explizit für die Erstveröffentlichung 2015 verfasst wurde, erörtert sie ihr Interesse an einer Biologie, „die sich möglicherweise in einem trostlosen und destruktiven Verhältnis zu sich selbst und der Welt befindet“ (S. 177). Sie ruft zunächst in Erinnerung, dass Melancholie bei Freud einen grundlegenden Ambivalenzkonflikt zu Tage befördert, den Konflikt zwischen Hass und Liebe, den jede Beziehung konstituiere. Das heute gängige Verständnis von Depressionen als (allein) nach innen gerichteten Aggressionen kaschiere jedoch diese „hasserfüllte Seite der Ambivalenz von Melancholie“ (S. 184). Aggressionen gegen sich selbst löschen nicht die (unbewussten) Feindseligkeiten gegen das ehemals (oder noch immer, aber verlorene) geliebte Objekt aus. „Die Aggression gegen die eigene Person zu richten, beendet nicht den Sadismus gegenüber anderen.“ (S. 185) Diese Aggressionen materialisieren sich, wie Wilson weiter mit Klein und Ferenczi herausarbeitet, im Magen-Darm-Trakt. In Essstörungen sieht sie eine „vom Verdauungsstrakt bewerkstelligte Negativität“ (S. 204) am Werk. Rumination, das zwanghafte und lustvolle Wiederkäuen bei Kleinkindern, oder auch das zwanghafte bulimische Erbrechen deutet sie als aggressive Organsprache, mit der der Körper sich selbst und seine Beziehungen torpediert. Diese Überlegungen bettet die Autorin in Lee Edelmans und Leo Bersanis „anti-social thesis“ (fälschlicherweise übersetzt als „Asozialitätsthese“, S. 39) ein, der These, dass queerer Sexualität eine Zerstörungswut eigen ist, die sich gegen die identitären Zwänge der heteronormativen Geschlechterordnung richtet. Daraus leitet sie schließlich auch eine feministische Politik radikaler Negativität ab – eine Politik, die ihre eigenen aggressiven, gar sadistischen Neigungen und ihr schädigendes Potenzial er- und anerkennt: „Nicht nur hängen wir an Dingen, die uns schaden (Berlant 2011), sondern wir versuchen auch, Dinge kaputt zu machen, an denen wir hängen.“ (S. 208) (Unbewusste) Aggressionen gelten damit (auch) den Dingen, mit denen man sich identifiziert, die man liebt und begehrt. Man kann sich bemühen, den Schaden, den man „Liebesobjekten“ zufügt, zu reparieren. Doch sollte man, so Wilson, nicht darauf hoffen, dass dies vollständig gelingt oder man sich dadurch von den eigenen Schuldgefühlen befreit (vgl. S. 178f.).
Im zweiten Teil des Buches widmet sich Wilson dann eingehender den Folgen des feministischen ‚Misstrauensvorschusses‘ gegenüber Antidepressiva. Auch dieser gründe in einem reduktiven Biologieverständnis, das die cartesianische Vorstellung reproduziert, biologische Materie sei passiv, leblos, fix, losgelöst von der Psyche und diese wiederum identisch mit dem Gehirn. Auch hier begegnet die Autorin der Skepsis zunächst mit einer detaillierten Beschreibung biologischer Prozesse. Sie deutet den Metabolismus von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) als „chemische Übertragung“ (S. 269ff.) und spielt dabei mit zwei Bedeutungen des Wortes: der Transport eines chemischen Stoffs im Körper und die Übertragung von Gefühlen auf den*die Analytiker*in in der psychoanalytischen Behandlung. Wilson legt im Anschluss an Karen Barad dar, wie die chemische Substanz intraaktiv hervorgebracht wird: Das enterische und zentrale Nervensystem, die Organe, die Umwelt und die Pille bringen sich durch den biochemischen Austausch wechselseitig hervor. Die Vorstellung eines linearen und kausalen Wirkungszusammenhangs zwischen Pille und Gehirn bzw. Körper wird dadurch obsolet. Eine Ablehnung, so wendet Wilson die feministische Kritik an Antidepressiva provokant, (re)produziere unweigerlich ein „antitransferenzielles“, d. h. reduktionistisches Verständnis des biologischen Körpers (S. 274).
In den nächsten beiden Kapiteln veranschaulicht sie dann ihren Vorschlag eines „transferenziellen“ Verständnisses „aggressiver“ organischer Materie an zwei umstrittenen Themen: die Verwendung von Placebos und das Suizidrisiko bei der Behandlung mit Antidepressiva. An den gescheiterten Versuchen klinischer Studien, Placebo und Antidepressiva eindeutig zu bestimmen, zeigt sich laut Wilson eine „übertriebene Sehnsucht nach Reinheit im Handeln“ (S. 332), die auch die feministische Kritik darauf beschränkt, entweder für oder gegen Psychopharmaka zu sein. Sie argumentiert, dass das Verhältnis zwischen Antidepressivum und Placebo „parasitär“ ist – metabolische und imaginäre Prozesse, pharmazeutische und eingebildete Wirkung bzw. Nichtwirkung durchdringen sich, sind voneinander abhängig und „verunreinigen“ sich (vgl. S. 316, 323). In Rückgriff auf Jacques Derridas Idee des Pharmakons spricht sie daher von einer „pharmakologischen Ambiguität“ (übersetzt als „Ambivalenz“, S. 359). Die Pille ist nicht per se schädlich, sondern entfaltet ihre Wirkung erst in einem Beziehungsgeflecht aus Körper, Geist und Umwelt. Suizidgedanken und -versuche betrachtet die Autorin entsprechend als „ein aus dem Lot geratenes pharmazeutisches-neuronales-ideal-affektives System“ (S. 369). Ein Medikament bildet nicht von sich aus das bessere Gegenstück zum „Gift“, sondern definiert sich durch sein chemisches und soziales Schadenspotential (vgl. S. 364).
Wilsons „Gut Feminism“, so lässt sich zusammenfassend sagen, schlägt also eine „reparative“ Lektüre vor, die bei den ‚Beschädigungen‘ ansetzt, den Ausschlüssen, für die eine cartesianische oder „paranoide“ feministische ‚Brille‘ auf Körper, Biologie und Antidepressiva verantwortlich ist: beim biologischen Körper und beim Darm bzw. enterischen Nervensystem. Mit einer offenen Hinwendung, genauen Beschreibung und konkreten Analyse sollen diese Ausschlüsse wieder integriert werden, ohne sie zu idealisieren – eine positivistische Haltung gegenüber Naturwissenschaften lehnt Wilson genauso ab wie eine „antibiologische“ (S. 398f.). Eine ‚entweder/oder-Logik‘ ersetzt sie durch eine ‚Pharmako-logik‘: Heilung und Schaden bzw. Verlust durchdringen sich; letztere anzuerkennen ist konstitutiv für die pharmazeutische Behandlung von Depressionen. Wilsons „reparative“ Lektüre – und das macht ihr Ansatz auch für gegenwärtige queer- und affekttheoretische Debatten reizvoll – lässt negative, feindselige und aggressive, Affekte zu. Feministische Kritik wird dadurch aufgefordert, in Betracht zu ziehen, dass Verlust, Schaden und Zerstörung in sozialen Beziehungen, in Heilungs- und Transformationsprozessen und feministischer Politik unvermeidlich sind. Vor Augen schwebt Wilson dabei, was sie mit dem Psychoanalytiker Donald Winnicott an anderer Stelle beschreibt: „the paradox of object destruction-survival: ‚Hullo object!‘ ‚I destroyed you‘ ‚I love you‘“ (Fitzgerald et al. 2015).
Dass „Eingeweide, Pillen, Feminismus“ bereits publizierte Artikel in überarbeiteter Form und aus einem Zeitraum von ca. 10 Jahren versammelt (2004–2015), erklärt die vielfältigen Themen, Begriffe und theoretischen Ansätze, mit denen die Autorin ihr „negatives“ Ontologie- und Politikverständnis formuliert, die sie aber kaum miteinander in Beziehung setzt – was den*die ‚paranoide*n‘ akademische*n Leser*in verärgern kann. Ihre Ausführungen zur biologischen Materie werfen zudem Fragen auf: Fällt Wilson mit dem Rekurs auf den „Psychismus“ organischer Materie einer den feministischen Neomaterialismen häufig vorgeworfenen „Sehnsucht nach Unmittelbarkeit“ (Lettow 2014) anheim, die sich vor allem darin zeigt, dass Materie über Kräfte „an sich“ verfügt und ihr Denken, Sprechen, Handeln außerhalb eines historischen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhangs vorgestellt wird? Widerspräche diese Perspektive nicht der Idee eines durch Barad inspirierten „transferenziellen“ Verständnisses von Materialität, in dem Organe, Pille, das periphere und zentrale Nervensystem sich intraaktiv hervorbringen?
Trotz dieser offenen Fragen bereichern Wilsons Ausführungen noch immer – auch sieben Jahren nach Ersterscheinung – die Debatte um Ontologie und Politik in feministischen Neomaterialismen um eine aussichtsreiche „negative“ Perspektive. Wilson fordert damit das einseitige „affirmative“ ‚Labelling‘ feministischer Neomaterialismen heraus, wofür sie bislang im deutschsprachigen Raum erstaunlicherweise kaum Beachtung findet (außer Hoppe/Lemke 2021). Ihre Auseinandersetzung um Negativität lässt sich zwar nicht in Zusammenhang bringen mit dem Begriff der Dialektik bzw. Theorien des Marxismus, von denen sich viele feministische Neomaterialismen in ihrer Proklamation für Affirmation selbstbewusst abgrenzen. Eher handelt es sich um einen theoretischen „Flickenteppich“ aus Queer Theory, Dekonstruktion und Psychoanalyse. Doch gerade durch den Rekurs auf klassische Positionen der Psychoanalyse ergänzt Wilson die im Diskurs dominanten vitalistischen bzw. deleuzianisch geprägten Zugänge, was für feministische gesellschaftstheoretische und -politische Projekte hilfreich sein kann, die sich nicht zwischen „Affirmation“ und „Negativität“ entscheiden können, zwischen Liebe und Hass, Lust und Unlust, Freude und Schmerz. Zuweilen scheint Wilsons Plädoyer, feministische Politik soll „radikal negativ“ sein, diese Ambivalenz von Affekt- und Gefühlsstrukturen allerdings aufzugeben.
„Eingeweide, Pillen, Feminismus“ regt schließlich dazu an, über die eigene Forschungspraxis nachzudenken, über die eigenen politischen und theoretischen Sehnsüchte und Affekte, die eben nicht (nur) hoffnungsvoll, harmonisch, zärtlich und – worauf dekoloniale feministische Kritiken vielfach hingewiesen haben – unschuldig sind: Was sind die Dinge, die (akademische) Feminismen aufnehmen, inkorporieren, verdauen, die sie verändern, worüber sie sich identifizieren, an denen sie hängen? Was sind die Dinge, die sie dabei ausscheiden – ausgrenzen, abstoßen, kaputt machen? Welche Verluste treiben sie selbst an? Was sind die Dinge, die sie begehren, aber (phantasmatisch) zerstören, und die sie nun ‚reparieren‘ wollen? Aufschlussreich sind Wilsons Überlegungen einer „radikalen“ Politik der Negativität auch für ein ‚offensiveres‘ feministisches Wissenschafts- und Politikverständnis im derzeitigen antifeministischen Klima. Sie lassen sich mit Anika Thyms, Andrea Maihofers und Matthias Luterbachs kürzlich vorgebrachter Forderung ins Gespräch bringen, feministische Wissenschaft solle auf „antigenderistische Angriffe“ weniger „defensiv selbstvergewissernd“ (Thym/Maihofer/Luterbach 2021, 156f.) reagieren. Schließlich handelt es sich bei jenen antigenderistischen Angriffen auch um ‚Gegenantworten‘ auf die erfolgreichen ‚Angriffe‘ seitens feministischer Politik und Wissenschaft. Die Autor*innen schlagen in ihrem Beitrag daher vor, die Differenzen in der Auseinandersetzung zu affirmieren, um die Debatte „offensiver“, „expliziter“, „produktiver“ führen zu können – auch um sich selbst aus der defensiven Position zu bewegen (ebd., 160, 165). Dafür müsse feministische Wissenschaft annehmen, dass sie nicht außerhalb von Herrschafts- und Machtverhältnissen operiert (ebd., 160).
Mit der Hinwendung zu (unbewussten) Aggressionen schreibt sich Wilson schließlich auch (weiterhin) originell in die epistemologische und methodologische Debatte um die „reparative Wende“ der Queer Theory ein – eine wichtige Einordnung, die in den einführenden Worten des Herausgebers und Psychoanalytikers Peter Schneider in der deutschen Ausgabe leider fehlen. Mit der Übersetzung des englischen Buchtitels „Gut Feminism“ in „Eingeweide, Pillen, Feminismen“ geht Wilsons programmatischer Einsatz im Feld feministischer Theorie verloren (vgl. S. 63). Wie oben angesprochen, lassen sich zudem einige Übersetzungsfehler und ungenaue bzw. fragwürdige Übersetzungen finden: „anti-social thesis“ wird als „Asozialitätsthese“ (S. 39) übersetzt, „ambiguity“ als „Ambivalenz“ (S. 359) und „physiology“ oder „biology“ stellenweise als „Körpernatur“ (S. 102, 400). Diese Fehler bzw. sprachlichen Feinheiten schaden zwar nicht der sprachlichen Qualität der Übersetzung und dem Lesevergnügen, sind aber für die akademische Diskussion relevant.
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