Open Gender Journal (2024) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Was ist (queer_feministische) Politik?

Rezension von Ines Hiegemann


Rezensionen zu Inga Nüthen (2023):
Geschlecht, Sexualität und Politik: Aspekte queer_feministischer Politikverständnisse.
Leverkusen: Barbara Budrich.
375 Seiten, ISBN 978-3-8474-2733-9, 39,90 € (Print), 35,99 € (PDF)


Abstract

Inga Nüthen legt in ihrer Dissertation eine Systematisierung „queer_feministischer“ Verständnisse von Politik entlang von fünf Diskussionsachsen vor. Der besondere Reiz der Arbeit liegt in dem breit angelegten Blickwinkel, der es einerseits vermag, klassisch-feministische Kritiken des politikwissenschaftlichen Politikbegriffs in ein Verhältnis zu dezidiert queer-feministischen Ansätzen zu setzen, und andererseits, diese Kontestationen wiederum an politikwissenschaftliche Diskusssionen – etwa um einen radikaldemokratischen Politikbegriff – rückzubinden. Nüthens Arbeit an der Schnittstelle zwischen Geschlechterforschung und Politikwissenschaft trägt damit klar zur Profilierung eines bislang vor allem in der deutschsprachigen Forschungslandschaft untertheorisierten Felds bei.

Schlagworte: Feminismus, Geschlechterforschung, Poltikwissenschaft, Queer Theory

Zitationsvorschlag: von Wachter, Veronika (2024): Was ist (queer_feministische) Politik? Rezension zu Inga Nüthen (2023): Geschlecht, Sexualität und Politik: Aspekte queer_feministischer Politikverständnisse. In: Open Gender Journal (2024). doi: 10.17169/ogj.2024.286.

Copyright: Veronika von Wachter. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2024.286

Eingereicht am: 20. Mai 2024

Angenommen am: 12. Juni 2024

Veröffentlicht am: 02. August 2024

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Überblick und Einordnung

Was ist Politik? In ihrer umfangreichen Dissertationsschrift liefert Inga Nüthen einen systematisierenden Überblick über queer_feministische Antworten auf diese Frage. Die Eingrenzung ihres Untersuchungsgegenstands ergibt sich dabei einerseits durch einen Fokus auf den deutschsprachigen und angloamerikanischen Raum (vgl. S. 17) und andererseits durch die Qualifizierung „queer_feministisch“ (mit Unterstrich). Letztere beschreibt Nüthen gegenüber der engeren Definition „queer-feministisch“ (mit Bindestrich) als „ein weites Theoriefeld [...], das feministische, queer-feministische, queere Ansätze wie auch lesbische, transfeministische, schwule und post/dekoloniale Kämpfe und Ansätze“ (S. 15) umfasst.

Mit dieser Arbeit an der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und Geschlechterforschung (vgl. S. 17) schreibt sich die Autor*in in ein nach wie vor gerade in der deutschsprachigen Forschungslandschaft eher sporadisch bedientes wissenschaftliches Feld ein (vgl. Wilde/ Bomert 2019, 668), zu dessen Profilierung aber sowohl Nüthens hier besprochene Erarbeitung queer_feministischer Politikbegriffe als auch das von ihr mit herausgegebene Handbuch Politik und Geschlecht (Klapeer et al. 2024) beitragen sollten1. Zentrales Anliegen feministischer Politikwissenschaft beziehungsweise politikwissenschaftlicher Geschlechterforschung ist die „Entgrenzung des Politikbegriffs“ (Rosenberger/Sauer 2004, 16), aus der ein weitaus breiterer Politikbegriff resultiert, als es die in der klassischen Politikwissenschaft gängige Dreiteilung in politics, polity und policy erlaubt (vgl. Rudolph 2015, 29). Nüthen teilt diesen Ansatz (vgl. S. 23f.) und spezifiziert die Stoßrichtung der ‚Entgrenzung‘, indem sie besonderes Augenmerk auf queer-feministisches (mit Bindestrich) politisches Denken legt. Bedingt durch eine theoretisch-politische Grundhaltung, die das Definieren dessen, was Politik bedeutet, immer schon selbst als politische Operation begreift (vgl. S. 21, 27), ist es nicht Ziel ihrer Ausarbeitung, eine autoritätsgebietende „allgemeine[] definitorische[] Bestimmung des [Politik-]Begriffs“ (S. 28) vorzunehmen. Stattdessen möchte Nüthen „eine Kartographie westlicher queer_feministischer Politikverständnisses [sic]“ (S. 28) vorlegen, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, sondern „einen Vorschlag für eine Rekonstruktion des Begriffsfelds ‚Politik‘ innerhalb queer_feministischer Theorien“ (S. 29) liefert.

Entsprechend diesem kartographischen Ansatz ist die Arbeit als Gruppierung von Diskussionen um in Kapiteln gefasste „Bündelungspunkte“ (S. 325) angelegt. Die Kapitel sind gleichzeitig jeweils zwei großen Teilen zugeordnet, einem ersten, der klassisch-feministische Ansätze zum Ausgangspunkt hat, und einem zweiten, in dem dezidiert queer-feministische Ansätze betrachtet werden.

Von privat/öffentlich zu Kontingenz – Abriss der Argumentation

Als ersten ‚Bündelungspunkt‘ identifiziert Nüthen die Kritik an der den konventionellen (vgl. S. 23) Politikbegriff begründenden Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Ausgehend vom grundsätzlichen feministischen Desiderat der Politisierung des Privaten geht sie über zu einer Problematisierung sowohl des privaten als auch des öffentlichen Bereichs, die letztlich in einem kritischen Blick auf das beide Seiten konstituierende Konstrukt – die Sphärentrennung selbst – mündet. Schon in diesem Kapitel – und das ist die Stärke von Nüthens breit angelegtem ‚queer_feministischen‘ Ansatz – brechen und verkomplizieren mit Differenz befasste Perspektiven eine vorrangig mit einem homogenen ‚Subjekt Frau‘ argumentierende feministische Kritik. So werden etwa Schwarze Feministinnen wie Sojourner Truth und bell hooks diskutiert, um die sogenannte ‚Politik der Selbsterfahrung‘ als eine Art und Weise der Politisierung des Privaten zu markieren, die eine spezifische (weiße, bürgerliche) weibliche Erfahrung privilegiert (vgl. S. 55ff.). Spiegelbildlich wird die öffentliche Sphäre unter anderem anhand von Judith Butlers Konzept der politischen Intelligibilität als heteronormativer Raum thematisiert, dessen Normalisierungsdynamiken Einschlüsse nur zu einem bestimmten Preis – beispielsweise der Ausweisung des eigenen trans* Körpers als ‚krank‘ – zulassen (vgl. S. 65ff.). Der Propagierung von sowohl Privatheit als auch Öffentlichkeit als Zufluchtsort an unterschiedlichen Punkten in der Debatte (vgl. S. 73) stellt die queer_feministische Kritik in Nüthens Darstellung eine Analyse von spezifischen Macht- und Herrschaftsgefällen in beiden Räumen entgegen.

Auf diese stellenweise etwas kleinteiligen Ausführungen folgt nun ein stark systematisiertes und systematisierendes Kapitel, in dem die Autor*in queer_feministische Politikbegriffe anhand der ihnen innewohnenden Machtkonzeptionen in drei Richtungen auffächert. Zunächst unterscheidet sie zwischen einem Begriff von Politik als „Institutionalisierung eines Unterdrückungsverhältnisses“ (S. 141) und einem sich als Kontrapunkt herausbildenden Begriff von Politik als „Dimension der Ermöglichung von individueller und struktureller Transformation“ (S. 140). Herrscht im ersten Verständnis eine Auffassung von Macht als direkte Ausübung von (mitunter gewaltvollem) Zwang auf Unterdrückte vor, so wird im zweiten Verständnis Macht als dasjenige definiert, das es im kollektiven „Gegen-“, also widerständigen, Handeln zu erringen gilt, also als Ermächtigung. Dieser gängigen Gegenüberstellung von Macht als power-over und power-to fügt Nüthen als dritte Dimension eine Konzeption von performativer Macht hinzu, die Politik als „vergeschlechtlichte[n] Modus subjektivierender Machtwirkung“ (S. 151) begreift. Sie diskutiert hier Judith Butlers Thesen zur vergeschlechtlichten Subjektivierung, in denen Subjekte in ihrer (geschlechtlichen) Normierung als Effekte produktiver Macht gefasst und deren politische Handlungsmacht in die Unvollkommenheit des Zitats, also der perfomierten Norm, verlegt werden (vgl. S. 149). Eine überaus hilfreiche Übersichtstabelle bildet diese dreigliedrige Systematisierung ab (S. 111).

Herzstück des folgenden Kapitels ist die mit „Streit um Differenz“ betitelte Rekonstruktion einer Auseinandersetzung zwischen Judith Butler und Seyla Benhabib. Streitpunkt ist hier konkret die Frage, welche politisch-theoretischen Konsequenzen aus dem Postulat einer grundsätzlichen Kontingenz gesellschaftlicher Verhältnisse sowie auch der Mittel zur Kritik dieser Verhältnisse gezogen werden sollten. Während Butler diese Kontingenz – das Fehlen von letzten Gründen, auf die sich unkritisch bezogen werden könnte – zum Ausgangspunkt jedweder Politik und damit Politik selbst zur „Bewegung des Gründens“ (S. 152) erklärt, plädiert Benhabib für eine strategische Überwindung von Kontingenz durch die Festlegung auf bestimmte normative Maßstäbe (vgl. S. 182ff.). Nüthens hervorragende Skizze dieser Diskussion nimmt nicht nur insofern eine zentrale Position in ihrer Arbeit ein, als dass „der Verweis auf die Kontingenz des Bestehenden zum Wesenskern queer_feministischer Kritik“ (S. 170) erhoben wird. Das Kapitel fungiert zudem als Scharnier zwischen dem ersten und dem zweiten Teil (vgl. S. 29f.). Wie die Autor*in argumentiert, „kennzeichnet [der ‚Streit um Differenz‘] nicht zuletzt die Gegenüberstellung eines feministischen und eines queeren beziehungsweise poststrukturalistisch-feministischen Projekts“ (S. 178). Nüthen schlägt sich hier dezidiert auf die Seite des letzteren (vgl. S. 200) und fokussiert ihre Analyse dementsprechend ab diesem Punkt auf spezifisch queer-feministische (mit Bindestrich) Ansätze.

Diese Positionierung hat zur Folge, dass in den anschließenden beiden Kapiteln solche Politikbegriffe verhandelt werden, die Politik im Angesicht von (und nicht gegen) Kontingenz bestimmen. Die Autor*in stellt diese Herangehensweise an Politik in den Kontext radikaldemokratischer Debatten. Insbesondere Chantal Mouffes Konzept des antagonistischen Wesens von Politik wird diskutiert und mit queer-feministischem Denken, beispielsweise von Gayle Rubin und Nina Power, verknüpft (vgl. S. 247ff.). Hier löst Nüthen besonders deutlich den Anspruch ein, an der Schließung der von ihr in der Einleitung diagnostizierten „doppelten Leerstelle“ (S. 25) zwischen politischer Theorie und Geschlechterforschung zu arbeiten. Ergebnis der Ausarbeitung ist eine Charakterisierung gesellschaftlicher Konflikte als „sexuelle Ordnungskämpfe“ (S. 261), in die queer-feministische Politik als Negativität, also störend, interveniert.

Im letzten Kapitel versammelt Nüthen – teils schon an anderen Stellen in der Analyse herangezogene – queer-feministische Ansätze hinsichtlich der Frage, wie in Anbetracht eines sich durch Kontingenz und Konflikthaftigkeit auszeichnenden Politikbegriffs Bündnisse geschmiedet werden können. Sie kommt zu dem Fazit, dass sowohl Differenz – verstanden als „Grundlage und Effekt von Ungleichheitsverhältnissen“ (S. 251f.) – als auch Relationalität – gefasst in Bezugnahme auf Butler als immer schon vorhandene Abhängigkeit und Verletzlichkeit menschlichen Lebens – nicht nur als Herausforderung, sondern vielmehr als „ermöglichende Bedingung“ (S. 318) für politische Allianzen gelten können.

Zum Zuschnitt der Arbeit und Fazit

Interessanterweise stellt Nüthen ihrer Ausarbeitung keine grundlegende Definition von Politik voran. In der Einleitung fragt Nüthen dementsprechend offen: „Ist das Gegenteil von Politik Neutralität, Natur, Wissenschaft, Ökonomie, oder schlicht privat?“ (S. 16) Wie ich argumentieren möchte, bedeutet allerdings schon Nüthens Verortung der Arbeit in der Politikwissenschaft beziehungsweise der politischen Theorie eine gewisse Eingrenzung dessen, was als politisch erkannt – und damit in die Untersuchung aufgenommen – wird. Der politikwissenschaftliche Politikbegriff wird zwar in jedem ihrer Bündelungspunkte kritisiert, überschritten und/oder entgrenzt, dient aber weiterhin als – mal implizite, mal explizite – Abgleichsfolie für ‚queer_feministisches‘ Denken von Politik. Das erklärt, warum beispielsweise sogenannte ‚neomaterialistische‘ Versuche, Politik zu fassen, keinen Eingang in die Diskussion finden. Diese bauen in erster Linie auf dem Nicht-Anerkennen der Grenzziehung zwischen Natur und Kultur (beziehungsweise dem Nicht-Menschlichen und dem Menschlichen) auf und unterlaufen damit ein ‚klassisches‘ – politikwissenschaftliches – Verständnis von Politik von Grund auf (vgl. z.B. Meißner 2014, Thiele 2017). Es zeugt wiederum von der Vielschichtigkeit der Analyse Nüthens, dass ihre Systematisierung auch für derartige postdualistische Ansätze des Politischen Anknüpfungspunkte böte. Letztere könnten etwa als weitere Radikalisierung eines auf Kontingenz fußenden Verständnisses von Politik oder als Spielart eines von einer foucaultschen Machtkonzeption getragenen Politikbegriffs verstanden werden (für letzteres vgl. Lemke 2021). Meine Überlegung zu den Konsequenzen der disziplinären Rahmung stellt letztlich weniger eine Kritik an Nüthens Arbeit dar als vielmehr den Versuch einer noch klareren Konturierung von deren Forschungsgegenstand. Wie die Autor*in selbst hervorhebt, besteht schließlich ein großer Mehrwert ihrer Dissertation gerade in der Erweiterung und Diversifizierung des androzentrisch verengten Archivs der Politikwissenschaft (vgl. S. 19).

Tatsächlich erscheint mir das größte Verdienst von Nüthens Ausarbeitung letztlich im Brückenschlagen zwischen einem (queer_)feministischen und einem politikwissenschaftlichen Blickwinkel zu liegen. Die Anschlussfähigkeit in beiden Feldern wird dabei durch einen klaren sprachlichen Ausdruck und eine starke Struktruriertheit auf Ebene der Kapitel unterstützt, wenn sich auch die Makrogliederung mit ihrer Unterteilung in zwei große thematische Einheiten erst auf den zweiten Blick erschließt. Nüthens multidimensionale Kartographie ‚queer_feministischer‘ Politikbegriffe könnte demnach durchaus zu einer überaus wertvollen Orienterungshilfe der politikwissenschaftlichen Geschlechterforschung avancieren.

Literatur

Klapeer, Christine M./Leinius, Johanna/Martinsen, Franziska/Mauer, Heike/Nüthen, Inga (Hg.) (2024): Handbuch Politik und Geschlecht. Politik und Geschlecht. Leverkusen: Barbara Budrich. doi: 10.3224/84742704

Lemke, Thomas (2021): The Government of Things: Foucault and the New Materialisms. New York: New York University Press. doi: 10.18574/nyu/9781479808816.001.0001

Meißner, Hanna (2014): Politics as Encounter and Response-ability. Learning to Converse with Enigmatic Others. In: Artnodes (14), 35–41. doi: 10.7238/a.v0i14.2411

Rosenberger, Sieglinde/Sauer, Birgit (2004): Einleitung: Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven. In: Rosenberger, Sieglinde/Sauer, Birgit (Hg.): Politikwissenschaft und Geschlecht: Konzepte – Verknüpfungen – Perspektiven. Wien: WUV, 9–22.

Rudolph, Clarissa (2015): Geschlechterverhältnisse in der Politik. Eine gender-orientierte Einführung in Grundfragen der Politikwissenschaft. Leverkusen: Barbara Budrich. doi: 10.36198/9783838543017

Thiele, Kathrin (2017): Was ist Politik? – Ontologische Un/Verfügbarkeiten aus (neo)materialistischer Perspektive. In: Bath, Corinna/Meißner, Hanna/Trinkaus, Stephan/Völker, Susanne (Hg.): Verantwortung und Un/Verfügbarkeit. Impulse und Zugänge eines (neo)materialistischen Feminismus. Münster: Westfälisches Dampfboot, 26–41.

Wilde, Gabriele/Bomert, Christiane (2019): Politikwissenschaft: feministische Positionen, Debatten und aktuelle Entwicklungen. In: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Geschlecht und Gesellschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 663–671. doi: 10.1007/978-3-658-12496-0_132


  1. Aus Gründen der Transparenz sei darauf verwiesen, dass die Verfasserin dieser Buchbesprechung an dem Handbuch als Beitragende mitgewirkt hat.