Open Gender Journal (2024) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Heike Kahlert
Rezension zu Elahe Haschemi Yekani, Magdalena Nowicka und Tiara Roxanne (2023):
Andere Sichtweisen auf Intersektionalität. Revisualising Intersectionality.
Wiesbaden: Springer VS.
128 Seiten, ISBN 978-3-658-38757-0, 64,99 € (Print), 0,00 € (PDF)
Elahe Haschemi Yekani, Magdalena Nowicka und Tiara Roxanne setzen mit ihrem transdisziplinären Buch am Primat des ‚Sehens‘ und dessen Gleichsetzung mit Wissen in westlichen Kulturen an. Insbesondere interessieren sich die Autor*innen für die Bedeutung des Sehens für die Rassifizierung, Vergeschlechtlichung und Sexualisierung von Körpern. Sie nutzen dafür Erkenntnisse aus Disziplinen wie Kognitionswissenschaft, Psychologie, Philosophie sowie Visual Culture Studies und aus der künstlerischen Forschung. Differenz und soziale Kategorien sowie deren intersektionale Verknüpfung in Machtverhältnissen werden dabei als kulturell prädisponiert vorgestellt. Die illustrierenden Beispiele stammen wesentlich aus der Migrations- und Rassismusforschung sowie den Queer und Trans Studies und leider kaum aus der Geschlechterforschung. Das Buch mündet in ein Plädoyer für einen Visual Turn in der Intersektionalitätsforschung im transdisziplinären Dialog und mithilfe neuer, noch zu entwickelnder Methoden.
Schlagworte: Antidiskriminierung, Intersektionalität, Methodologie, Theorie
Zitationsvorschlag: Kahlert, Heike (2024): Visual Turn in der Intersektionalitätsforschung. Zur Forderung nach einer neuen Aufmerksamkeit für das 'Sehen' von Differenz. Rezension zu Elahe Haschemi Yekani, Magdalena Nowicka und Tiara Roxanne(2023): Andere Sichtweisen auf Intersektionalität. Revisualising Intersectionality. In: Open Gender Journal (2024). doi: 10.17169/ogj.2024.300.
Copyright: Heike Kahlert. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2024.300
Eingereicht am: 01. August 2024
Angenommen am: 22. August 2024
Veröffentlicht am: 30. September 2024
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Überkreuzungen und Interdependenzen von unterschiedlichen Unterdrückungsformen stehen nicht erst seit deren Benennung als Intersektionalität im Fokus von Bürgerrechtsbewegungen und kritischer Ungleichheitenforschung. Längst sind die das Konzept behandelnden oder verwendenden theoretischen und methodologischen Debatten sowie empirischen Untersuchungen angesichts ihrer Breite und Tiefe kaum mehr überschaubar. Insofern macht es zunächst skeptisch, wenn ein neues Buch im Titel vollmundig verspricht, „Andere Sichtweisen auf Intersektionalität“ zu liefern, Intersektionalität also neu oder anders zu sehen. Das von der Anglistin Elahe Haschemi Yekani, der Soziologin Magdalena Nowicka und Tiara Roxanne, indigene*r Cyberfeminist*in, Wissenschaftler*in und Künstler*in, vorgelegte Buch zielt nach Haschemi Yekani und Nowicka auf eine „produktive[] Überarbeitung intersektionaler Analyse“ (S. 7), als Revisualisierung und Revidierung derselben, genauer: auf die „erneute Betrachtung und Überarbeitung von Intersektionalität durch einen Fokus auf Visualität (und umgekehrt von Visualität durch einen Fokus auf Intersektionalität)“ (ebd.).
Zu den formalen Besonderheiten des Buches gehört, dass das zugrunde liegende transdisziplinäre Projekt aus wissenschaftlichen Lektüren und Diskussionen sowie aus offenen Gesprächsformaten, ‚Conversations‘ (‚Konversationen‘) genannt, mit geladenen Gästen über ausgewählte Filme, Texte, Vorträge und Performances bestand. Hinzu kommt, dass das Buch zunächst in englischer Sprache und kurz darauf auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Die Autor*innen begründen dies damit, dass Englisch die Arbeitssprache des zugrunde liegenden Projekts gewesen sei, aber da sie als Forschende in Deutschland verortet seien, sei ihnen „besonders wichtig“ (S. VII) gewesen, die Ergebnisse des Vorhabens auch auf Deutsch zugänglich zu machen. Das Projekt und die beiden Buchpublikationen wurden im Rahmen der Initiative „Originalitätsverdacht“ von der VolkswagenStiftung gefördert. Neben der Einleitung und einem Schluss, die beide von Haschemi Yekani und Nowicka verfasst wurden, besteht das Buch aus drei unterschiedlich langen Texten, die von Haschemi Yekani, Nowicka und Roxanne je einzeln verantwortet werden. Dabei greifen die Autor*innen, in Abhängigkeit von ihren Erkenntnisinteressen und professionellen Hintergründen, auf Erkenntnisse aus Soziologie, Psychologie, Philosophie und Kognitionswissenschaft (Nowicka) respektive den Visual Culture Studies und auf Ansätze aus Queer, Trans und Gender Studies sowie post- und dekolonialen Theorien (Haschemi Yekani) zurück oder bedienen sich verschiedener Methoden der künstlerischen Forschung (Roxanne).
Bei der Beschreibung des Anliegens des Buches nehmen Haschemi Yekani und Nowicka in der Einleitung Bezug auf einen Aufsatz von Sumi Cho, Leslie McCall und Kimberlé Crenshaw (2013, 795), die in diesem Intersektionalität als eine analytische Sensibilität im Hinblick auf das Nachdenken über das Problem von Gleichheit und Differenz und dessen Beziehung zu Macht begreifen, die nicht ausschließlich und nicht primär mit Kategorien, Identitäten und Subjektivitäten verbunden sei. Daran anschließend leitet das Buch die Frage, „wie eine solche intersektionale ,analytische Sensibilität‘ durch eine Berücksichtigung dessen, wie Visualität und Differenz einander formen und herausfordern, erweitert werden kann“ (S. 3f.).
Die Autorinnen wollen sich hinsichtlich der intersektionalen Betrachtung insbesondere auf Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus, Gewalt gegen trans Personen und Ableismus konzentrieren, die mit der Verkörperung sozialer Zuschreibungen von Differenz, der Art und Weise, wie regulierende Diskurse in Körper eingeschrieben würden, und der Darstellung von Körpern zusammenhängen würden. Interessanterweise wird hier Klassismus als ebenfalls zentrale Diskriminierungsform nicht genannt und sein Fehlen in dieser Auflistung leider auch nicht begründet. Eine mögliche Erklärung für das Auslassen der Kategorie Klasse liefert Nowicka erst später in ihrem eigenen Beitrag. Dabei stützt sie sich auf Patricia Hill Collins (2019), die nach Nowicka argumentiere, dass Klasse keine Kategorie, sondern ein Basiskonzept, sei, das jeder intersektionalen Forschung zugrunde liege: Klassenanalyse sei Kapitalismusanalyse und als Voraussetzung für intersektionale Analysen zu behandeln. Hill Collins (2019, 230f.) selbst bezieht diese Aussage jedoch nur auf explizit marxistische Gesellschaftstheorien oder Gesellschaftstheorien in deren direkter Nachfolge wie etwa die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und verdeutlicht, dass der Theoriekontext der Verwendung der Kategorie Klasse in der intersektionalen Analyse häufig ungeklärt bleibe. Insofern verkürzt Nowicka Hill Collins’ Argumentation und bleibt letztlich die Begründung für das Auslassen der Kategorie Klasse in den Beiträgen des Buches schuldig.
Visualität ist nach Ansicht der beiden Verfasserinnen bislang in Auseinandersetzungen mit Intersektionalität nicht explizit thematisiert worden; vielmehr erscheine sie selbstverständlich, da die Visualität von Gleichheit und Differenz in der Kritik an Verkörperungsweisen sozialer Ungleichheit immer implizit vorhanden sei. Stattdessen stellen die Autorinnen Formen visueller Vielfalt in den Mittelpunkt und kritisieren mit ihrem Unternehmen die vermeintliche Beweiskraft von Ähnlichkeits- und Differenzkategorien. Ihr Verständnis von Visualität ist breit angelegt, nämlich in Bezug auf (politische) Repräsentation sowie als die Art und Weise, wie Gestaltungen der Welt in Bezug auf normative Vorstellungen und mehrfache, verzahnte Ungleichheiten visuell strukturiert sind; zudem birgt Visualität auch das Potential der Vorstellung anderer Seinsweisen. Die auf Kosten anderer Sinne erfolgende Betonung des Sehens sei von der Überzeugung motiviert, „dass visuelle Repräsentation einen privilegierten Status in Bezug auf soziale Anerkennung in einer okkularzentrischen [sic] Gesellschaft einnimmt“ (S. 5). Genauer interessieren sich die Autorinnen „für die epistemologischen und banalen Aspekte der Auswirkungen, die dieses Verständnis von Repräsentation auf alltägliche Vorstellungen von Identität und In-der-Welt-Sein hat – Vorstellungen, die sich vielleicht nicht immer eindeutig in strikte Kategorien einfügen, aber dennoch beeinflusst sind von machtvollen Anrufungen in ein Anderssein“ (ebd.).
Magdalena Nowicka untersucht in ihrem Beitrag „Wo Differenz beginnt“, wo Ähnlichkeit aufhört und folglich Differenz ihren Anfang nimmt, und beschäftigt sich mit konzeptuellen Antworten auf die Frage danach, wie Körper kategorisiert werden. Dabei greift sie auf kognitionswissenschaftliche und psychologische, gelegentlich auch philosophische und sozialwissenschaftliche Überlegungen zu Klassifizierung zurück und erschließt die potentiell diskriminierenden sozialen Auswirkungen ebendieser unter Einbezug von empirischen Beispielen aus ihrer eigenen Forschung zu polnischen Migrant*innen in England und Deutschland. Ihre Analysen verdeutlichten die Neigung, Vorstellungen von race, Geschlecht und Sexualität, die im eigenen soziokulturellen, historischen und geografischen Kontext erworben wurden und tief im eigenen kulturellen Repertoire verwurzelt sind, auf unbekannte Andere auch in anderen soziokulturellen, historischen und geografischen Kontexten zu projizieren und so zu glauben, durch das (An-)Sehen Anderer zu wissen, wer diese sind. Andere werden dabei anhand ausgewählter Aspekte des Aussehens und der Performance als Angehörige bestimmter Gruppen kategorisiert, wobei das Beachten und Ignorieren bestimmter Unterschiede Machtverhältnisse widerspiegelt und produziert.
Die Verfasserin argumentiert, dass die Wahrnehmung Anderer, ihr Othering, tief in binär konstruierte rassifizierte, vergeschlechtliche und sexualisierte Kulturen eingebettet und durch einen „(visuellen) Essentialismus“ (S. 19) geprägt ist, der auch strategisch, beispielsweise im Kampf um Anerkennung, genutzt werden kann. ,Sehen‘ wird so zu einem machtvollen Instrument bei Aufbau und Aufrechterhaltung von Privilegien beziehungsweise Benachteiligung oder Ausschluss bestimmter Personen und Gruppen. Aber „[w]ie wir gesehen werden ist nicht deckungsgleich, mit dem wie wir sind oder sein wollen“ (S. 22), denn Sichtbarkeit sei das Ergebnis eines komplexen sozialen Prozesses, der Menschen in bestimmten relationalen Positionen verortet und soziale Beziehungen in Körper einschreibt. Dies gelte besonders für die sozialen Kategorien race und Geschlecht. Diese hätten einen starken visuellen Charakter und würden oft essentialisiert, auch in und mit der Sprache. Dabei würden Kategorien, die Zuordnung zu ihnen, ihre Grenzen und Bedeutungen, aber auch ihre Beziehungen zueinander eigentlich konstant neu verhandelt. Kategorien sind also relational und können sich in ihrem Zusammenwirken verändern.
Kategorien und Kategorisierung sind nach Nowicka kulturell geprägt: „Es ist die Rolle der Kultur, in der wir leben und die auf Sprache basiert, uns zu helfen, mit Ambivalenzen und Unsicherheiten in der Kategorisierung umzugehen.“ (S. 31) Die Kultur (einschließlich der Sprache) trägt zur Strukturierung der Wahrnehmung bei. Durch die sprachlich vermittelte Kultur wird „ein Körper zu einem rassifizierten und vergeschlechtlichten, einem jungen oder alten, behinderten oder nicht behinderten Körper; Haut wird ‚weiß‘ oder ‚Schwarz‘; die Nasen- oder Augenform wird zu einem Gruppenzugehörigkeitsmerkmal“ (S. 33, Hervorhebung im Original). Differenzierung ist dabei ein komplexer Prozess, der sich zwischen den Körpern der Anderen und denen der Wahrnehmenden als Effekt von Machtverhältnissen ereignet. Die Verfasserin schlussfolgert, dass Kategorien der Reduktion von Komplexität dienen und ein effektives Mittel sind, um Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen. Auch die Wissenschaften leisteten einen Beitrag zur Fixierung von Kategorien, etwa in der routinemäßigen und oft unreflektierten Anwendung von race und Geschlecht in empirischen und experimentellen Studien. Angesichts dieser Ausführungen stellt sich abschließend die Frage, ob und wie ein intersektionales Sehen Anderer möglich werden könnte. Nowicka bleibt diesbezüglich bezeichnenderweise und leider sehr vage und verweist auf das „Potential künstlerischer Interventionen“ (S. 43) sowie auf den Bedarf „eines Wandels der wissenschaftlichen Kultur“ (S. 44).
Tiara Roxannes Beitrag „Andere Sichtweisen auf Intersektionalität: Konversationen“ stellt das Konzept und einige Ergebnisse der Veranstaltungsreihe des der Veröffentlichung zugrunde liegenden Projekts vor, die in der zweiten Jahreshälfte 2019 an verschiedenen Orten in Berlin stattfand. Die Veranstaltungsreihe basierte auf dem Konzept der visuellen Sphäre, „mit dessen Hilfe über neue Ungleichheiten nachgedacht werden kann und gefragt werden sollte, wie wir die Sichtbarkeit von Differenz sinnvoll erschließen können, ohne Kategorien wie Geschlecht, race und Klasse festsetzende Bedeutungen zuzuschreiben“ (S. 57, Hervorhebung im Original). Dabei sollte das Konzept der Intersektionalität als ein Weg für nicht-normative Formen kritischer Auseinandersetzung mit der Welt genutzt werden. In method(olog)ischer Hinsicht fanden die der künstlerischen Forschung entlehnten Ansätze „Konversation und Dialog“ sowie „kollaborative Fallstudien“ Anwendung. Jede der vier durchgeführten Konversationen widmete sich einem eigenen Thema – Trans*, Gleichheit, Wahrnehmung und Intimität –, das mit eingeladenen Gästen begrifflich diskutiert und visuell dargestellt wurde.
Roxanne beschreibt in dem Text die durchgeführten Konversationen einschließlich des diesen zugrunde liegenden künstlerischen und wissenschaftlichen Materials und skizziert einige Inhalte und Ergebnisse der dialogischen Veranstaltungsformate. In den beiden Veranstaltungen zu den Themen „Trans*“ und „Gleichheit“ wurde gemeinsam mit eingeladenen Teilnehmer*innen ein Kinofilm geschaut und anhand von einem, von allen vorab gelesenen, wissenschaftlichen Text diskutiert. Dabei ging es zunächst um die Formbarkeit des Körpers und deren Veränderung angesichts des Blicks, durch den ein Körper betrachtet wird, und dann um Gleichartigkeit als verkörperte Sozialität, im Gegensatz zu den Identitätskategorien, die in der Intersektionalitätsdiskussion hervorgehoben werden. Die dritte Konversation bestand aus einem Vortrag und einer Live-Illustration zum Thema „Wahrnehmung“ und stellte die körperliche Dimension der Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Die vierte Konversation zum Thema „Intimität“ in Online- und Offline-Räumen kombinierte schließlich einen Vortrag und eine Performance von zwei Tänzer*innen, über die anschließend mit allen Beteiligten und dem Publikum gesprochen wurde.
Angerissen wird in den kurzen Darstellungen der vier Veranstaltungen, wie darin jeweils Binaritäten und Kategorisierungen infrage gestellt wurden. Illustrativ unterstützt werden die Ergebnisinterpretationen durch insgesamt neun farbige Abbildungen aus den gezeigten Filmen, den gehaltenen Vorträgen und der aufgeführten Installation sowie der Performance. Roxanne schlussfolgert: „Da Intersektionalität eine Plattform bietet, um Fragen zur Entwicklung kategorienübergreifender Denkweisen zu stellen, ermöglichte der Rückgriff auf künstlerische Forschungsmethoden gemeinsam mit den jeweils titelgebenden Konzepten, neue Kritiken in Bezug auf das (Un-)Gesehene und Hypervisibilität im Allgemeinen zu entwickeln. Die Einbeziehung dieser unterschiedlichen Ansätze hat gezeigt, dass Konversation nicht nur verbaler Dialog ist, sondern auch Zusammenarbeit.“ (S. 75) Die Ausführungen zur Veranstaltungsreihe machen neugierig auf die Konversationen, können die (nicht mehr mögliche) Teilnahme an diesen letztlich aber nicht ersetzen, sodass sich im Kontext des Buches ihr fachlicher Ertrag leider nur sehr begrenzt erschließt.
Elahe Haschemi Yekani verbindet in ihrem Beitrag „Zweck und Grenzen von Sichtbarkeit“ die Intersektionalitätsforschung mit Visual Culture Studies, um die verschiedenen Ziele und Grenzen von Sichtbarkeit zu beleuchten. Dafür problematisiert sie Vorstellungen von Differenz, die auf einer Binarität von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit beruhen. Westliche Wissensproduktion wie auch emanzipatorische politische Projekte stützten sich stark auf Sehen als Metapher für Anerkennung. Visualität wird so unmittelbar mit Fragen der Sichtbarkeit als Repräsentation verbunden. Visualität und Sichtbarkeit können jedoch nicht gleichgesetzt werden: Visualität beschreibt vielmehr die historisch-kulturellen Signifikationspraktiken, etwa von Körpern, durch die Bedeutungen visuell kommuniziert werden und mit denen die Konstruktion von Identitäten und Gruppen einhergeht. Sichtbarkeit beruht demnach auf visueller Darstellung, geht aber auch darüber hinaus. Sie beruht auf dem Sehen und Gesehenwerden.
„Sehen ist keineswegs neutral“ (S. 97), argumentiert die Verfasserin überzeugend, denn es setzt vertikale und horizontale Ungleichheit voraus und reproduziert diese. Damit widerspricht sie der landläufigen Annahme, dass Sehen bereits Wissen oder gar soziale Anerkennung bedeutet, und stellt Sehen stattdessen als eine kreative Praxis in Machtbeziehungen dar, bei der innerhalb verkörperter Blickregime anhand sichtbarer somatischer Merkmale sozial sortiert wird. (Nicht-)Sehen beziehungsweise (Nicht-)Gesehenwerden ist demnach eine Frage der (Nicht-)Wahrnehmung in hierarchischen Machtverhältnissen und folglich politisiert. Demnach wirken positive (Gegen-)Bilder an sich also noch nicht Diskriminierungen entgegen, denn es sind ja gerade die sozialen Auswirkungen von verzerrten und voreingenommenen Differenzwahrnehmungen, die Kategorisierungen produzieren und zu strukturellen Diskriminierungen führen.
Nach Haschemi Yekani braucht es also Arten des Anders-Sehens, „einen Versuch, in normative visuelle Ordnungen einzugreifen; und eine produktive Revidierung intersektionaler Analysezugänge“ (S. 86) – kurz: einen „Bruch[…] mit Sehgewohnheiten auf der Ebene des Betrachtens von Bildern und unserer Identifikation mit ihnen, aber auch auf jener der Produktion unterschiedlicher visueller Codes“ (S. 87f.). An diese Überlegungen anschließend erörtert die Autorin einige Beispiele für andere Sichtweisen in künstlerischer Praxis, visueller Alltagskultur und digitalen Medien, die zu einem Queeren und Trans*en von Identifikation und des Bildrepertoires sowie zu Möglichkeiten des Überschreitens beziehungsweise der Verweigerung von Repräsentation überhaupt beitragen. Andere Sichtweisen weisen demnach in Richtung anderer Seinsweisen, die eine feste Identität infrage stellen. Offenere, zugänglichere und gerechtere Seinsweisen erwachsen also letztlich aus der Bereitschaft zu Sichtweisen, die ein anderes Sehen und Sich-Vorstellen der Welt ermöglichen.
Im Schlusskapitel fassen Nowicka und Haschemi Yekani die zentralen Ergebnisse des gemeinsam mit Roxanne verfassten Buchs zusammen und betonen die Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit den Mechanismen der visuellen Evidenz und erachten sie als entscheidend für die de-essentialisierende Weiterentwicklung von Differenz in der Intersektionalitätsforschung: „Unseres Erachtens ermöglicht ein Fokus auf die Frage, wie Essentialisierung und Festschreibung durch Bezugnahme auf visuelle Merkmale und das Vertrauen auf vermeintliche visuelle Evidenz vor sich geht, eine produktivere Herausforderung, als Kategorien insgesamt abzulehnen oder ihren Essentialismus zu kritisieren. Auch die wissenschaftliche Wissensproduktion ist nicht frei von derlei skopischen Regimen. Eine intersektionale Kritik daran, wie Visualität mit Wissensbildung verbunden ist, erfordert daher eine grundsätzlichere Unterbrechung etablierter Wahrnehmungs- und Repräsentationsweisen von Differenz und Ähnlichkeit.“ (S. 121, Hervorhebung im Original)
Vor diesem Hintergrund fordern die Verfasserinnen abschließend eine konkretere und praktischere Auseinandersetzung intersektionaler Forschung mit der Frage, wie Visualität in Prozesse der Herstellung von Un-/Sichtbarkeit verwoben sei, die soziale Gerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe verhinderten, gleichzeitig aber potentiell auch für eben diese mobilisiert werden könnten. Zu klären wäre im transdisziplinären Dialog und unter Entwicklung neuer Methoden, welche Rolle Visualität in unseren Vorstellungen von Differenz spielt und welches Potential sie trägt, um neue politische Vorstellungen zu fördern. Nowicka und Haschemi Yekani plädieren also dafür, intersektional zu erforschen, wie Kategorien visuelle Bedeutung erlangen und wie sie funktionieren. Das würde ihrer Ansicht nach den Rahmen der Intersektionalitätsforschung erweitern und ermöglichen, neue Konzeptionen von Ungleichheit zu entwickeln.
Nicht alle von Haschemi Yekani, Nowicka und Roxanne artikulierten Überlegungen sind so neu, wie die Autor*innen behaupten. So wurde die Produktion von Differenz und deren Kategorisierung sowie die Rolle des ‚Sehens‘ dieser Differenz längst im ethnomethodologischen Kontext der Geschlechterforschung breit problematisiert – zu denken ist etwa an die breit rezipierten Publikationen von Candace West und Don H. Zimmerman (1987) sowie von Candace West und Sarah Fenstermaker (1995). Und im Hinblick auf intersektionale Methodologien hat beispielsweise Leslie McCall (2005) auch lange vor dem vorliegenden Buch auf die Problematik fixierender und fixierter Kategorien aufmerksam gemacht und in diesem Kontext die Vorstellung von antikategorialer Komplexität von Intersektionalität eingeführt, mithilfe derer analytische Kategorien dekonstruiert werden können. Gleichwohl verorten sich die genannten Arbeiten nicht unter dem Label von Visualitätsforschung. Dennoch wäre es für das vorliegende Buch wünschenswert gewesen und hätte den darin formulierten Denkanstößen keinen Abbruch getan, wenn frühere Arbeiten aus der Geschlechterforschung, die im Übrigen durchweg kaum als Referenz herangezogen wird, mehr gewürdigt worden wären. Jenseits dieser eher kritischen Bemerkungen ist dem Buch zu wünschen, dass es in der Intersektionalitätsforschung Aufmerksamkeit findet und an den darin aufgeworfenen Forschungsfragen weitergedacht wird.
Cho, Sumi/Crenshaw, Kimberlé Williams/McCall, Leslie (2013): Toward a Field of Intersectionality Studies: Theory, Applications, and Praxis. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 38 (4), 785–810. doi: 10.1086/669608
Collins, Patricia Hill (2019): Intersectionality as Critical Social Theory. Durham: Duke University Press. doi: 10.1515/9781478007098
McCall, Leslie (2005): The Complexity of Intersectionality. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 30 (3), 1771–1800. doi: 10.1086/426800
West, Candace/Fenstermaker, Sarah (1995): Doing Difference. In: Gender and Society 9 (1), 8–37. doi: 10.1177/089124395009001002
West, Candace/Zimmerman, Don H. (1987): Doing Gender. In: Gender and Society 1 (2), 125–151. doi: 10.1177/0891243287001002002