Open Gender Journal (2025) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen
Rezension von Stefanie Kröber
Rezension zu Folke Brodersen: Kontrolle und Selbstbestimmung (2025):
Zur Subjektivierung der Pädophilie.
Frankfurt/New York: Campus Verlag.
356 Seiten, ISBN: 978-3-593-52042-1, 39,00 €
Die Studie untersucht Subjektivierungsweisen und Selbst-Positionierungen pädophiler Männer anhand von therapeutischen Maßnahmen, Selbstbeschreibungen und gesellschaftlichen Diskursen. Sexuelle Kontrolle wird dabei als entscheidende Machttechnik definiert, die zum einen die Subjektwerdung des Pädophilen erst ermöglicht und zum anderen soziale Strukturen und gesellschaftliche Normen stabilisiert. Es handelt sich bei dieser Studie um eine dichte und komplexe Analyse, die mithilfe der Grenzfigur des Pädophilen gesellschaftliche Macht und Ordnungsverhältnisse sichtbar werden lässt und somit informativ und anschlussfähig für viele wissenschaftliche wie praxisorientierte Disziplinen ist.
Schlagworte: Macht, Prävention, Subjektivierung, Sexualität, Sexualisierte Gewalt
Zitationsvorschlag: Kröber, Stefanie (2025): Subjektivierung Pädophiler an den Grenzen des Sozialen. Rezension zu Folke Brodersen (2025): Kontrolle und Selbstbestimmung. Zur Subjektivierung der Pädophilie. In: Open Gender Journal (2025). doi: 10.17169/ogj.2025.364.
Copyright: Stefanie Kroeber. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2025.364
Eingereicht am: 12. März 2025
Angenommen am: 17. März 2025
Veröffentlicht am: 08. April 2025
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Es gibt eine große Bandbreite wissenschaftlicher Arbeiten aus der Perspektive verschiedenster Disziplinen zum Thema Pädophilie. Pädagogische, sexualwissenschaftliche, medizinisch-therapeutische und kriminologische beziehungsweise forensisch psychiatrische Auseinandersetzungen legen ihren Fokus etwa auf Diagnostik, Risikomanagement und Therapie. Gleichzeitig sind nur sehr wenige macht- und gesellschaftstheoretische Arbeiten zum Thema Pädophilie erschienen. Zu nennen sind im deutschsprachigen Raum Florian Mildenberger (2006), Danny Michelsen (2015) und Katrin Kämpf (2022). Während Mildenberger sich auf die aus den Homosexuellenbewegungen der 1970er und 80er Jahre hervorgegangene Emanzipationsbewegung Pädophiler in Deutschland am Beispiel des offen pädophilen Schriftstellers Peter Schult fokussiert, zeichnet Michelsen „Pädosexualität im Spiegel der Ideengeschichte“ von der griechischen Antike über die Sexualwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu Nationalsozialismus und Nachkriegszeit nach. Ihr Aufsatz erschien in einem Sammelband zur Aufarbeitung der Verstrickungen der Partei Die Grünen in die Pädophilen-Bewegung. Kämpf identifiziert in der deutschen Diskursgeschichte drei Figuren des Pädophilen: erstens den tragischen Pädophilen, zweitens den gefährlichen Pädophilen und drittens den antisemitisch rassifizierten „Kinderschänder“, der auch in aktuellen rechten Angriffen eine Renaissance erfahre (vgl. Kämpf 2022, 267). Kämpf fasst das Präventionsnetzwerk Kein Täter werden „als ein Aushandlungsfeld [eines] risikobiopolitischen Pädophilie-Konzeptes“ (ebd., 259), in welchem durch Selbst- und Risikomanagement sowie technische Mittel – etwa standardisierte Diagnoseverfahren – potenziellen Gefahren vorgebeugt werden solle. Folke Brodersens Analyse setzt an diesem Punkt an und arbeitet die therapeutisch vermittelte sexuelle Kontrolle als Modus der Selbstbeherrschung heraus, wodurch die Entstehung eines selbstverantwortlichen pädophilen Subjekts ermöglicht und somit der Anfang vom Ende der Pädophilie als „letzte Perversion“ eingeläutet wird (vgl. S. 13).
Brodersens Monografie „Kontrolle und Selbstbestimmung. Zur Subjektivierung der Pädophilie“ ist 2025 in der Campus-Reihe „Politik der Geschlechterverhältnisse“ erschienen und richtet sich an ein breites Publikum aus Gender und Queer Studies, Soziologie, Psychologie sowie Sozial- und Kulturwissenschaften. In seiner auf der 2023 an der Technischen Universität Berlin eingereichten Dissertationsschrift beruhenden Publikation zeigt der Autor, in neun Kapitel gegliedert, dass sich Kontrolle und Selbstbestimmung nicht ausschließen und dass die gesellschaftliche Akzeptanz pädophiler Personen eng mit ihrer Fähigkeit zur sexuellen Selbstkontrolle und dem präventiven Anliegen verknüpft ist. Die soziale Ordnung wird durch diese neue Form der Selbstregulierung bestätigt und stabilisiert.
Brodersen verfolgt in seiner Arbeit das Ziel, zu analysieren, wie sich pädophile Personen durch therapeutische Programme und gesellschaftliche Diskurse als handlungsfähige Subjekte konstituieren und wie sich somit die Figur des Pädophilen transformiert. Außerdem möchte er den damit einhergehenden Wandel und die sozialen Bedeutungen nähergehend betrachten (vgl. S. 17f.). Zentraler Bezugspunkt dieser Arbeit ist dabei die sexuelle Kontrolle. Nach Allyn Walkers soziologischer Auseinandersetzung mit Pädophilie liegt dem Konzept sexueller Kontrolle zugrunde, dass es pädophile Menschen gebe, die ihre sexuelle Ansprechbarkeit für Kinder nicht ausleben wollen. Die gesellschaftliche Stigmatisierung und damit einhergehende soziale Isolation wirke jedoch einer gelingenden Prävention sexualisierter Gewalt entgegen und müsse abgebaut werden, um eben jene „non-offending Minor-Attracted People“ beim Zugang zu therapeutischer Hilfe zu unterstützen (vgl. Walker 2021). Diese Grundannahmen spiegeln sich im sexuell kontrollierten Pädophilen wider und sind Teil eines „transformativen Dispositivs“, welches sich ausgehend vom therapeutischen Angebot des Präventionsprojekts Dunkelfeld – auch bekannt als Kein Täter werden – in Deutschland bereits etabliert habe (vgl. S. 51). Brodersen analysiert die Subjektwerdung zum einen anhand von Therapiemanualen und Interviews mit Betroffenen, wobei er die Leser_innen entlang der Elemente Sein, Fühlen, Handeln, Denken und Zukunftsvisionen durch die Konstruktion und Innenperspektive des Subjekts führt (Kapitel 3 bis 7). Und zum anderen zeigt er mithilfe von Mediendarstellungen die gesellschaftlichen und diskursiven Außenperspektiven auf, deren Wirken auf das Subjekt ebenso betrachtet wird wie die Reproduktion sexueller Kontrolle in sozialer Ordnung (Kapitel 8 und 9).
Brodersen zeigt in den Kapiteln 3 bis 7, dass der sexuell kontrollierte Pädophile als soziales Subjekt agiert. Seine Identität wird zwar durch gesellschaftliche und therapeutisch-psychologische Normen geprägt, aber er übernimmt aktiv die Kontrolle über seine Affekte, passt sein soziales Verhalten flexibel an und richtet sich nach einer neosozialen Ethik: „Sexuelle Kontrolle bedeutet damit, das eigene Denken sozial auszurichten und Beziehungen in dieser Ethik des Gegenübers zu gestalten.“ (S. 207) Indem er seine Zukunft aktiv gestaltet, wird er nicht mehr nur von der gesellschaftlichen Ordnung bestimmt, sondern wirkt selbst handelnd in ihr (vgl. S. 238).
In Kapitel 8 wird analysiert, wie die Gesellschaft mit medialen Reportagen sexuell kontrollierte Pädophile bedingt integriert, indem sie diese als verantwortungsbewusste Subjekte darstellt, die durch Selbstkontrolle zur Prävention sexueller Gewalt beitragen. Dabei wird ein Prozess der Immunisierung sichtbar, der über Entproblematisierung, Mitgefühl, Entstigmatisierung und Sicherheitsdiskurse eine kontrollierte Inklusion schafft, ohne dass die grundlegenden gesellschaftlichen Grenzen infrage gestellt würden. Diese Strategie stabilisiert die soziale Ordnung, indem sie Pädophile zwar aufwertet, sie aber weiterhin als potenzielle Gefahr markiert und ihre Anerkennung an die Bedingung der vollständigen Selbstkontrolle knüpft. „Sexuelle Kontrolle verspricht: Endlich Sicherheit.“ (S. 276)
Abschließend reflektiert Brodersen seine Ergebnisse und verortet sie queer-theoretisch entlang der Annahme, dass sexuelle Kontrolle gesellschaftliche Normen nicht auflöst, sondern stabilisiert. Queere Theorien hinterfragen zwar bestehende Ordnungen, sind jedoch selbst in Machtstrukturen eingebunden und können nicht uneingeschränkt auf alle Formen sexueller Differenz angewendet werden. Statt der simplen Dichotomie von Inklusion und Ausschluss plädiert Brodersen für die Festlegung von Grenzen, die eine kritische Auseinandersetzung mit Normen ermöglichen und soziale Verantwortung kollektivieren (vgl. S. 291).
Die Studie könnte im Sinne Adele Clarkes als „dichte Analyse“ (Fosket 2002, 40, zitiert nach Clark 2012, 25) beschrieben werden, die komplexe Rückschlüsse auf gesellschaftliche Macht- und Bedeutungsgewebe zulässt und empirisch ein breites Spektrum von therapeutischen Konzepten, narrativen Interviews und Öffentlichkeitsdarstellungen umfasst. Diese Dichte und Komplexität, die sich auch in einem breiten, disziplinenübergreifenden Wissen, dargelegt in ausführlichen Fußnoten und der Einführung vieler Konzepte der Queer Studies und Soziologie, niederschlägt, macht den Text auch sehr voraussetzungsvoll. Die klare Gesamtstruktur, und dabei ist insbesondere der empirische Teil hervorzuheben, sowie die Präzisierung und Wiederholung entscheidender Aspekte helfen, die komplexen Herleitungen nachvollziehen zu können.
Inhaltlich ergibt sich die selbstbenannte Leerstelle der Studie aus der Feststellung, dass „sexuelle Kontrolle männlich strukturiert ist“ (S. 50). Subjektivierung und Selbst-Positionierung von pädophilen Personen jenseits der cis-männlichen Norm bleiben unbearbeitet. Gleichzeitig etabliert Brodersen inspirierende Ausgangspunkte für weitere Forschung, die mir als erheblich erscheinende Fragen aufwerfen. Inwieweit können sexuelle Kontrollmechanismen als Machttechnik insgesamt, aber auch Konzepte vom Noch-Nicht-Täter, von Akzeptanz und Distanz oder (De-)Problematisierung mit Blick auf pädophile Frauen, Trans- und non-binäre Personen gedacht werden? Interessant hierfür könnte auch die von Brodersen als Ort sexueller Kontrolle identifizierte Selbsthilfe sein, in welcher vermutlich ein diverseres Sample als in therapeutischen Institutionen zu finden ist. Ferner würde mich interessieren, auf welche Art und Weise sich sexuelle Kontrolle außerhalb von Therapie, Selbsthilfe und Reportagen darstellt oder ob sich vergleichbare, alternative oder konkurrierende Konzepte etwa mit Blick auf die Institution Kirche finden ließen. Und bei genauerer Betrachtung der Machttechnik, die sich auf das Publikum richtet, stellt sich die Frage, von welchem Publikum sprechen wir hier eigentlich genau? Welche sozialen Gruppen rezipieren auf welche Art und Weise die Reportagen und wie stehen Berichterstattungen zu sexualisierter Gewalt an Kindern dieser gegenüber? Dabei schließt eine diskursive Strategie, die sich an eine bestimmte Personengruppe richtet, eine visionäre Transformation der Gesellschaft aber auch nicht aus. Festzuhalten bleibt die durch Brodersen empirisch dargelegte wesentliche Erkenntnis, dass Regulierung nicht rein individuell, sondern als Machttechnik wirkt, die dem Individuum eine bedingte Form von Freiheit ermöglicht und zu einer Stabilisierung, aber nicht zu einer völligen Neuausrichtung der sozialen Ordnung führt.
Die besondere Stärke der Auseinandersetzung sehe ich im dialogischen Zusammendenken von Gegensätzlichkeiten, in der erhellenden Verbindung von der Mikro- und Makroebene sexueller Kontrolle und im Plädoyer, auch widersprüchlich anmutende Verletzlichkeiten ernst zu nehmen. Im Sinne einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Phänomen Pädophilie wirkt der Text mithilfe der kritischen Rekonstruktion und Reflexion der Daten selbst entstigmatisierend auf den Diskurs ein, geht aber mit „eine[r] Gesellschaftskritik sexueller Kontrolle“ (S. 277) auch darüber hinaus. Somit ist die Studie anschlussfähig für weitere inter- und transdisziplinäre Forschung zum Themenfeld sexueller Devianzen, wie auch für ein breites Publikum der Queer Studies, Soziologie und Kulturwissenschaften insgesamt.
Clark, Adele (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer.
Kämpf, Katrin (2022): Pädophilie. Eine Diskursgeschichte. Bielefeld: transcript. doi: 10.1515/9783839455777
Michelsen, Danny (2015): Pädosexualität im Spiegel der Ideengeschichte. In: Walter, Franz/Klecha, Stephan/Hensel, Alexander (Hg.): Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 23–59. doi: 10.13109/9783666300554.23
Mildenberger, Florian (2006): Beispiel: Peter Schult. Pädophilie im öffentlichen Diskurs. Hamburg: Männerschwarm.
Walker, Allyn (2021): A Long, Dark Shadow. Minor-Attracted People and Their Pursuit of Dignity. Oakland: University of California Press. doi: 10.1525/9780520973695