Open Gender Journal (2025) | Rubrik: querelles-net: Rezensionen

Geschlechterverhältnisse im Wandel. Auf der Suche nach dem ‚Anderen‘

Rezension von Theresa Lempp


Rezension zu Sophie Maria Ruby (2024): Geschlechterverhältnisse jenseits der Norm – eine theoretisch-empirische Modellierung zur Sichtbarmachung geschlechtlicher Vielfalt.
Opladen: Budrich
201 Seiten, ISBN: 978-3-96665-085-4206, 53,00 €


Abstract

Sophie Ruby entwickelt in ihrem Buch auf der Basis von Vignetten eine empirisch-theoretische Modellierung, um die vielfach konstatierte Gleichzeitigkeit von Beharrung und Wandel in den Geschlechterverhältnissen theoretisch zu fassen. Sie analysiert dabei fortbestehende Machtverhältnisse, macht aber auch alternative Lebensweisen und vielfältige geschlechtliche Existenzweisen sichtbar.

Schlagworte: Care, Diversität, Gender, Wandel

Zitationsvorschlag: Lempp (2025): Geschlechterverhältnisse im Wandel. Auf der Suche nach dem ‚Anderen‘. Rezension zu Sophie Maria Ruby (2024): Geschlechterverhältnisse jenseits der Norm – eine theoretisch-empirische Modellierung zur Sichtbarmachung geschlechtlicher Vielfalt. In: Open Gender Journal (2025). doi: 10.17169/ogj.2025.394.

Copyright: Theresa Lempp. Dieser Artikel ist lizensiert unter den Bedingungen der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

DOI: http://doi.org/10.17169/ogj.2025.394

Eingereicht am: 11. August 2025

Angenommen am: 01. September 2025

Veröffentlicht am: 10. September 2025

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Mit Begriffen wie Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche, Verflüssigung und Restabilisierung, Beharrung und Wandel wurde in verschiedenen Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte versucht, die vielschichtigen Entwicklungsdynamiken der Geschlechterverhältnisse zu beschreiben (vgl. z.B. Maihofer 2007, Meuser 2019). An diesem Befund setzt Sophie Ruby mit ihrer Dissertationsschrift an und legt mit dem Buch „Geschlechterverhältnisse jenseits der Norm“ ein theoretisch ambitioniertes und zugleich gesellschaftlich relevantes Werk vor, das sich der Herausforderung stellt, die Verhältnisse zwischen Beharrung und Wandel theoretisch zu konzeptualisieren und dabei vielfältige geschlechtliche Wirklichkeiten und deren Relationen zueinander sichtbar zu machen. Während in bisherigen geschlechtersoziologischen Analysen vielfach eine strukturalistische Kritikperspektive eingenommen und die (Re-)Produktion von Ungleichheiten in verschiedenen Feldern herausgearbeitet wird, liegt in dieser Studie der Fokus auf dem ‚Anderen‘. Ruby verfolgt das Ziel, Relationen zwischen verschiedenen Geschlechtern, die nicht über Herrschaft, Hegemonie oder Hierarchie funktionieren, theoretisch zu modellieren und damit zu stärken, ohne fortbestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verdecken.

Die Soziologin baut ihre Argumentation in vier Schritten auf. Im zweiten Kapitel erläutert sie die methodologischen Grundlagen ihrer theoretisch-empirischen Modellierung. Um die Dynamiken von Geschlechterverhältnissen in verschiedenen sozialen Feldern zu analysieren, nutzt Ruby drei Bücher aus dem Bereich Care-Arbeit und dem Kontext Teamarbeit in Organisationen als Vignetten („Links leben mit Kindern“ (Birken/Eschen 2020), „Reinventing Organisations visuell“ (Laloux 2017), „Feministisch leben!“ (Ahmed 2018)). Diese drei sehr unterschiedlichen Werke eint ihre emanzipatorisch-interventionistische Ausrichtung. Sie fungieren nicht nur als illustrative Beispiele, sondern als analytische Werkzeuge und als „Fenster zum Utopischen“ (S. 43). So werden zum Beispiel im queerfeministischen Blog „Links leben mit Kindern“ ‚andere‘ Modelle und gelingende und scheiternde Praxisversuche des Lebens mit Kindern jenseits von Herkunft- und Kleinfamilie reflektiert, während bei Frédéric Laloux in abstrakterer Weise konkrete Formen der Zusammenarbeit in Organisationen in ihrer Entwicklung beschrieben werden. In einer iterativen Hin- und Herbewegung zwischen Theorie und Empirie und einem Prozess des offenen, axialen und selektiven Kodierens identifiziert Ruby aus ihrem Bezugsmaterial verschiedene Relationen zwischen Geschlechtern. Diese bilden den Kern ihres analytischen Modells, das es ermöglicht, Geschlechterverhältnisse in ihren komplexen Dynamiken, Aushandlungen und Widersprüchen zu verstehen.

Im dritten Kapitel verknüpft Ruby sozialtheoretische Perspektiven mit einem machtkritischen und intersektionalen Ansatz und setzt damit ihre theoretische Basis. In ihrer mehrdimensionalen Begriffsbestimmung von Geschlecht schließt Ruby zunächst an Andrea Maihofers Konzept von Geschlecht als gesellschaftlich-kulturelle Existenzweise an, verknüpft diese aber mit einer queerenden Perspektive, um sowohl normierende Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität kritisch analysieren zu können als auch die Möglichkeiten des ‚Anderen‘, das „Nebeneinander (potenziell) vieler geschlechtlicher Existenzweisen“ (S. 74) sowie „nicht-geschlechtliche gesellschaftlich-kulturelle Existenzweisen“ (S. 75) einzubeziehen und ihnen somit über das Gegebene heraus einen Ort zu verschaffen.

Geschlechterverhältnisse als ein Gefüge der Relationen zwischen Geschlechtern

Im vierten Kapitel erläutert Ruby ihre Modellierung als ein Gefüge der Relationen der Geschlechter. Dafür untersucht sie zunächst den Begriff des ‚Anderen‘ und plädiert für eine Perspektive, die das ‚Andere‘ als gleichwertig anerkennt, um das „Machtmoment der Dichotomie“ (S. 82) zu durchbrechen. Dies erfordert auch ein (V)erlernen des Beobachtens und des Interpretierens, um dieses ‚Andere‘ neben hegemonialisierenden oder patriarchalisierenden Relationen entdecken zu können. Als Hilfsmittel dient ihr hier eine ‚weiterfragende Leerkategorie‘, die als Platzhalter hinter jeder Relation ein eigenes unbeschriebenes Kapitel im Buch erhält. Damit wird der Blick auf weitere Aspekte offengehalten und permanent an die Unabgeschlossenheit der Modellierung erinnert. Dazu integriert Ruby das „utopische Moment“ (Kap. 4.2.) als eine Vision von Geschlechterverhältnissen, die jenseits bestehender Normen liegen. Um zum einen die Vielfältigkeit der Relationen zwischen Geschlechtern als auch das Verhältnis zwischen Beharrung und Wandel differenzierter fassen zu können, unterscheidet sie zwischen zwei Analyseebenen: a) die Relationen zwischen Geschlechtern sowie b) das Gefüge der Relationen, wie es sich als Dynamik der Relationen zueinander zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft oder in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern zeigt.

Im fünften Kapitel werden schließlich als zentraler Beitrag des Buches vier miteinander verwobene, aber analytisch unterscheidbare Relationen von Geschlechtern entwickelt. Ruby greift dabei das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Raewyn Connell (1995) auf, kritisiert und erweitert es aber deutlich – sowohl theoretisch als auch analytisch. Anstatt sich allein auf Männlichkeitsformen und deren Hierarchisierung zu fokussieren, beschreibt Ruby ein Feld unterschiedlicher geschlechtlicher Relationen: Hegemonialisierung, Patriarchalisierung sowie herrschaftskritische Alternativsuche und „Nebeneinander Miteinander Füreinander“ (S. 142). Hegemonialisierung im Sinne einer Macht durch Normsetzung und Patriarchalisierung im Sinne der Unterdrückung durch ein männliches Dominanzprinzip sind dabei nicht auf der Strukturebene angesiedelt, sondern nur auf der Ebene der Geschlechterrelationen und werden somit dynamisiert und zu anderen möglichen Geschlechterrelationen ins Verhältnis gesetzt.

Mit der Erweiterung von Connells Modell um alternative und transformative Relationen zielt Ruby darauf ab, nicht nur die dominante Relation (Hegemonie) zu analysieren, sondern auch das, was ihr entgegensteht oder sich ihr entzieht. In der Kategorie „Herrschaftskritische Alternativsuche“ bilden sich Praktiken und Suchbewegungen ab, die hegemonialisierende und patriarchalisierende Muster kritisieren oder bewusst unterlaufen, ohne sich schon auf neue Ordnungen festzulegen. Mit der Kategorie „Nebeneinander Miteinander Füreinander“ greift Ruby die Idee einer prinzipiell unbegrenzten Vielfalt von Geschlechtern auf, die nicht-hierarchisch nebeneinanderstehen, die eigene Angewiesenheit anerkennen und Sorgeverantwortung kooperativ und solidarisch teilen. Dazu kommt die Möglichkeit, sich nicht geschlechtlich zu verorten. Das Kapitel schließt mit einer Sammlung von Kategorien ab, um die zweite Ebene – das Gefüge der Relationen von Geschlechtern – zu einem gegebenen gesellschaftlichen Zeitpunkt oder feldspezifisch analysieren zu können.

Fazit

In ihrem Buch „Geschlechterverhältnisse jenseits der Norm“ bietet die Autorin eine feingliedrige soziologische Modellierung, die neue Wege eröffnet, um über Geschlecht, Macht und soziale Relationen nachzudenken – ohne dabei in normstabilisierende Perspektiven zu verfallen. Die Relationen sind analytisch scharf, zugleich aber offen genug, um komplexe, widersprüchliche soziale Praktiken zu erfassen und sowohl Momente der Beharrung von Herrschaft als auch ‚andere‘ Aspekte zu analysieren und deren Verhältnisse untereinander in den Blick nehmen zu können. Die theoretisch-empirische Modellierung mit ihrer Zusammenführung verschiedener Geschlechterkonzepte in einer Relationen-Perspektive bleibt dabei konsequent beweglich und prozesshaft, nicht nur durch die Leerkategorie, die das Weiterdenken in die Struktur einschreibt, sondern auch durch die Auswahl der Begrifflichkeiten. Diese Beweglichkeit spiegelt sich nicht zuletzt im Schreiben der Autorin wider, die ihre Suchprozesse, ihr Scheitern und Weiterdenken offenlegt und sich so methodologischen Glättungen und theoretischen Schließungen widersetzt.

Ruby gelingt es, eine Vielzahl von theoretischen Positionen (hegenomie- und männlichkeitstheoretische Perspektiven, feministische Wissens- und Machtkritik, queer-feministische Perspektiven, Gouvernamentalitätskritik) in produktiver Weise zu verweben und weiterzudenken. Ihr geschlechtersoziologischer Beitrag liegt dabei vor allem in der Relationalisierung, Pluralisierung und Kontextualisierung geschlechtlicher Machtverhältnisse sowie in der Schaffung eines theoretischen Ortes für das ‚Andere‘. Zudem erweitert und repolitisiert Ruby die Debatte um Organisation und Geschlecht (vgl. z.B. Müller/Riegraf/Wilz 2013), indem sie Organisationen nicht nur als Reproduktionsapparate von Ungleichheit, sondern auch als Orte von Vielfalt, Kritik und potenzieller Transformation denkt.

Besonders inspirierend an dieser Theoriearbeit erscheint mir in den aktuellen Zeiten ihr welterschließendes Moment, indem anders als in negativ-dialektisch-gesellschaftstheoretischen Varianten nicht nur auf die Möglichkeit des Anders-sein-Könnens verwiesen wird. Durch die Arbeit mit den Vignetten werden auch konkrete Formen des ‚Anderen‘ aufgezeigt und so die Grenzen des Denk- und Sagbaren verschoben. Die Modellierung kann den emanzipatorischen sozialen Bewegungen und präfigurativen Experimenten zugleich als „Dokumentarin und Archivarin, als Stichwortgeberin und als ebenbürtige, kritische Gesprächspartnerin“ (Sörensen 2022, 634) dienen und demokratisiert damit auch die Theorie- und Wissensproduktion.

Ein Kritikpunkt kann in der theoretischen Dichte gesehen werden. Die Lektüre erfordert ein hohes Vorwissen in Soziologie, feministischer Theorie und den Queer Studies. Für Einsteiger:innen ist das Buch sehr anspruchsvoll, gleichzeitig bleibt es durch die Vignetten nicht akademisch-abstrakt. Es sollte also überall dort gelesen und weitergedacht werden, wo neue Perspektiven auf Geschlechtergerechtigkeit, Vielfalt und Transformation gesucht werden: in Hochschulen, zivilgesellschaftlicher Praxis, in der Bildung und in politischen Bewegungen.

Literatur

Ahmed, Sara (2018): Feministisch leben! Manifest für Spaßverderberinnen. Münster: Unrast.

Birken, Almut; Eschen, Nicola (2020): Links leben mit Kindern. Care Revolution zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Münster: Unrast.

Connell, Raewyn (1995): Masculinities. Cambridge: Polity Press.

Laloux, Frédéric (2017): Reinventing Organizations visuell. Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Unter Mitarbeit von Etienne Appert. München: Franz Vahlen. doi: 10.15358/9783800652860

Maihofer, Andrea (2007): Gender in Motion: Gesellschaftliche Transformationsprozesse – Umbrüche in den Geschlechterverhältnissen? Eine Problemskizze. In: Grisard, Dominique/Häberlein, Jana/Kaiser, Anelies/Saxer, Sibylle (Hg.): Gender in Motion. Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung. Frankfurt a.M.: Campus, 281–315.

Meuser, Michael (2019): Wandel – Kontinuität: Entwicklungsdynamiken im Geschlechterverhältnis. In: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung Wiesbaden: Springer VS, 55–63. doi: 10.1007/978-3-658-12496-0_6

Müller, Ursula/Riegraf, Birgit/Wilz, Sylvia Marlene (Hg.) (2013): Geschlecht und Organisation. Wiesbaden: Springer VS. doi: 10.1007/978-3-531-94093-9

Sörensen, P. (2022): Kritische politische Theorie der Präfiguration. In: Politische Vierteljahresschrift 63 (4), 613–637. doi: 10.1007/s11615-022-00421-7